Vita – Ausführlich
[Auszug aus „Erinnerungen Aus der Vergangenheit unserer Familie, aufgezeichnet aus alten Berichten und selbst Gehörtem von Bertha Thieme“, 1930, Mauskript im Familienbesitz]
Unser Urgroßvater, wurde geboren im Diakonate zu Allstedt am 26. Februar 1780 als zweiter Sohn des Diakonus Gottfried Thieme, und der Eleonore Wahl, Tochter des Superintendenten Wahl in Allstedt. Noch im Jahre 1780 wurde sein Vater nach Niederröblingen versetzt. Von hieraus besuchte er die
Rektoratsschule in Allstedt, bezog dann 1790 die Klosterschule von Rossleben, an der er zeitlebens mit großer Liebe hing. Mit Rektor Wilhelm[1] blieb er bis zum Lebensende in den 40er Jahren in innigem Verkehr. Er hatte ja auch Grund, gern an jene Jahre zurückzudenken, denn das Lernen wurde ihm sehr leicht und auch seine dichterische Begabung, die alles Erleben verschönte und übersonnte, wird sich wohl früh schon gezeigt und andere miterfreut haben. Er war ein fröhlicher Knabe; bei aller Einfachheit des Elternhauses reich durch seine große warme Liebe zur Natur, in der er täglich neue herrliche Wunder sah
und fand. An nichts konnte er achtlos vorübergehen, jedes Blümchen musste erkennen, an jedem hatte er seine Freude. Von jedem Tierlein in Feld und Wald musste er wissen, wo es sein Nestchen oder seine Höhle hatte. So sprang er lustig durch Haus und Garten und auch die sehr strenge Erziehung früherer
Jahrhunderte, von der er noch ein gut Teil abbekommen hatte, konnte ihm nichts nehmen von seiner glücklichen Unbefangenheit. Aus seinen ersten Kinderjahren wurde uns folgendes nettes Geschichtchen erzählt:
möchte; er wagt aber nicht darum zu bitten und geht dann mit dieser großen ungestillten Sehnsucht nach mehr Bohnensalat zu Bett. Mitten in der Nacht – es ist heller Mondschein – sieht die Mutter, wie sich im Bettchen eine kleine Gestalt erhebt. Fest schlafend, aber kerzengerade mit abstehendem Zöpfchen steht der kleine August, macht eine tiefe Verbeugung und sagt laut und deutlich: „Ich bitte gehorsamst um noch etwas Bohnensalat!“ –
Viele gute Freunde und liebe Verwandte gingen zur Sommerzeit ein und aus im Pfarrhaus zu Niederröblingen. Besonders innig war das Verhältnis der Pfarrersleute zu den Wahls in Allstedt, den Geschwistern der Mutter. Daran änderte sich auch nichts, als das Leben sie alle zerstreut und jeder seine eigene Aufgabe und sein eigenes Heim gefunden hatte. Ein Bruder der Mutter ging als cand. theol. nach Russland, wurde dann deutsch-lutherischer Pfarrer und Probst in Wiburg in Finnland, der zweite Bruder wurde an der Kaufmannskirche in Erfurt, der dritte Pfarrer zu Gispersleben bei Erfurt. Eine Schwester heiratete den Regierungsrat Rühling in Stolberg a. H. – Nachkommen von ihnen lebten später in Dresden. –
Zu jener Zeit bestand ein sehr nahes Verhältnis zwischen unseren Vorfahren und der Familie des Sekretairs Ranke[2] in Wiehe, der ja auch zu den Verwandten gehörte, weil die beiden Großmütter, die Frau des alten Ranke[3] und die Frau des Thieme’schen Großvaters (Superintendent Rudolph Wahl in Allstedt) Schwestern waren. Wie warm und herzlich die beiden Familien Thieme – Ranke zueinander standen, zeigt eine lustige Wiedersehensscene, von der uns Großvater Theodor Thieme erzählte. Vater Ranke steht einmal am Fenster, ist eben dabei sich zu rasieren und hat das Gesicht voll Seifenschaum. Da sieht er vorm Garten einen Wagen halten und ihm entsteigt die junge Base Luise Wahl[4] die spätere Frau unseres Urgroßvaters August Thieme, damals wohl ein junges Bräutchen. In seiner Herzensfreude vergisst Ranke ganz sein Aussehen, stürmt hinaus, umarmt und küsst seine junge Verwandte mit allem Seifenschaum, so dass schließlich beide weiß bekleckert dastanden und bald die ganze Familie sich herzlich lachend an diesem gar zu stürmischen Willkommen mit freuen konnte. – Sekretär Ranke in Wiehe
war der Vater des großen Historikers Leopold Ranke[5].
–
Nun muss ich, um August Thieme’s Werdegang genau und der Reihe nach zu bringen, wieder etwas zurückgehen bis in seine Knabenjahre. Er hatte keine Schwester und hat damit, wenn auch unbewusst, etwas entbehrt, das doch die Kinderspiele so lebendig macht. Ganz verschieden und nicht immer bequem sind ja die kleinen Wesen, die somit den Brüdern in ganz denselben Verhältnissen heranwachsen.
Entweder sanft und schutzbedürftig – oder andersgeartet, in nicht einzudämmender Herrschbegier immer wieder von Neuem zu Widerspruch und kleinen Kämpfen Anlass gebend. Wir wissen nicht, wie er darüber dachte – jedenfalls fand er den schönsten Ersatz für das ihm versagt Gebliebene in der kleinen Luise Wahl, die zuerst als fröhlicher Feriengast, später ganz zur Familie gehörend, ihm die liebenswürdigste und
treueste Freundin wurde, die er sich wünschen konnte. Luises Vater, der Pfarrer Wahl in Erfurt, war als Bruder der Eleonore Wahl, der Schwager des Pfarrers Gottfried Thieme in Niederröblingen. Luise erhielt in Erfurt eine sehr sorgfältige Erziehung. Im dortigen Ursululinerinnen-Kloster wurde sie in allen weiblichen Handarbeiten unterrichtet; besonders in der Malerei und feinem Sticken leistete sie Hervorragendes. Es existieren noch handgestickte kleine Bilder von ihr, die kleine Kunstwerke sind. (Schwalbenstein bei Ilmenau)[6]
Luise verlor sehr früh ihre Mutter; der Vater verheiratete sich zum zweiten Male. Er heiratete seine Haushälterin, und seitdem fühlte sich Luise in ihrem Vaterhause nicht mehr wohl. In dieser Stimmung packte sie eine große Sehnsucht nach Niederröblingen, wo sie bei Onkel und Tante Thieme und mit dem fast gleichaltrigen Vetter August frohe und sorglose Ferienzeiten verlebt hatte. Sie fragte brieflich um Rat und erhielt den Bescheid: „Komm zu uns!“ Sie folgte gern dem Rufe und hat in dem töchterlosen Hause, wo sie ganz wie das eigen Kind gehalten wurde, noch glückliche Jahre verlebt.
Ihr Vetter August bestand 1799 die Schlussprüfung an der Klosterschule Roßleben und ging dann nach Halle, um dort Theologie zu studieren. Neben dem ernsten Studium hat er wohl noch Zeit gefunden, sich an das frohe Treiben der Studenten mit anzuschließen. Er wurde in Halle Senior der Landsmannschaft der Sachsen.
Sehr früh, noch als Schüler oder junger Student, verlobte er sich mit seiner Kindheits- und Jugendgespielin Luise Wahl. Die Kinderliebe wurde zur Lebensliebe und nie hat sich an dem innigen Verhältnis der Beiden zueinander etwas geändert. In allen Wechselfällen des Lebens ist es immer dasselbe
geblieben, bis zu Luisens Tod im Jahre1843.
August Thieme ging im Jahre 1800 nach Jena, um dort weiter zu studieren. Bei seinem Abgange von der Universität promovierte er in Jena als Dr. phil. und wurde auch Zeitlebens „Herr Dr.“ genannt. Im Jahre 1817 ernannte ihn die theologische Fakultät zu Jena bei Gelegenheit des Reformat-Jubiläums zum Lizentiaten[7] der Theologie. – Als er im Jahre 1802 seine Studien vollendet hatte, folgte er dem Rufe des General Dahn auf Sippola in Finnland, dem er als Hauslehrer für seinen Sohn empfohlen worden war. Der junge Dahn wurde später Kommandant in Warschau und besuchte von da aus noch einmal seinen einstigen Lehrer in Allstedt 1834.
1803 veranlasste ihn der deutsch-lutherische Prediger von Busse, in Petersburg eine Stelle als Lehrer an der Katharinenschule daselbst anzunehmen. Gern erfasste er die Gelegenheit, sich noch weiter in der Fremde umzusehen, andere Menschen und Verhältnisse kennen zu lernen und reiste nach dem fremden Petersburg. Dort in der neuen Lehrtätigkeit lebte er sich schnell ein, war daneben auch schriftstellerisch tätig. Inder von deutschen Dichtern herausgegebenen Zeitschrift in Petersburg „Ruthenia“[8] ließ er Gedichte erscheinen, dann ein Drama „Peter der Große bei Pultawa“ und eine Gedichtreihe: „Gemälde aus St. Petersburg“. – Bald fand sich auch für seine Braut Luise Wahl eine Stelle an einer Mädchenschule in Petersburg. Sie wagte die damals so weite und beschwerliche Reise in einem kleinen Segelschiff über die Ostsee, kam glücklich in Petersburg an und logierte sich in einer Privatwohnung ein.
Im Jahre 1805 berief die Universität Dorpat[9] August Thieme nach Wiburg in Finnland, als Lehrer vom deutschen Gymnasium und Kreisschulinspektor „als welcher er im weiten Umkreis die Landschulen zu inspizieren hatte“. In den finnischen Schulen führte er ganz neue Lehrpläne ein und schrieb eine finnische
Grammatik. Für seine Reformbestrebungen interessierte sich persönlich der Kaiser von Russland, Zar Alexander I., der ja immer bestrebt war, deutsche Kultur und deutsches Wissen seinem Volk zugänglich zu machen. Von einer, dem jungen Deutschen bewilligte Audienz hörte ich erzählen, in der die neuen Lehrpläne durchgesprochen wurden. Leider besitze ich darüber nichts Schriftliches; aber noch vorhanden ist ein Dokument aus dem Jahre 1808, das dem neu ernannten Schulinspektor auf kaiserlichen Befehl freie
Fahrt und Schutz für seine Inspektionsreisen zusichert. Da er nun ein Amt und sichere Einnahmen hatte, heiratete er 1805 Luise Wahl aus Erfurt. Die Hochzeit wurde in Wiburg gefeiert. Ein älterer Bruder des Pfarrer Wahl in Erfurt und der Eleonore Wahl, die Gottfried Thieme heiratete, also ein Onkel der Luise Wahl und ihres Vetters August, ging als cand. theol. nach Russland, wurde deutsch-lutherischer Pfarrer und Probst in Wiburg in Finnland. Von dort aus hat er immer in engem brieflichen Verkehr mit den Wahls und Thiemes gestanden und sich der heranwachsenden jungen Glieder der Familie so herzlich und immer weiter helfend angenommen, dass seiner stets mit warmer Dankbarkeit gedacht wurde. So sorgte er auch für die jungen Verwandten in Petersburg wie ein rechter Vater, gab ihnen, solange sie auf russischem Boden leben mussten, eine zweite Heimat.
Nach der Trauung in Petersburg – Probst von Busse wird selbst das junge Paar in der deutschen Kirche, zu der Thiemes Schule gehörte, getraut haben – reisten Thiemes sofort nach Wiburg, wo dann im Hause des Onkels im engsten Familienkreise eine sehr stimmungsvolle Nachfeier stattfand, an der man wohl wehmütig und voll Sehnsucht zurück dachte an die ferne Thüringer Heimat und die alten, nun einsam gewordenen Eltern.
Dann aus dem Hause der lieben Verwandten – ein kurzer Weg nur – und hinüber ging es in die neu gegründete Häuslichkeit. Nun folgten für den jungen Gelehrten Jahre eines reichen, mit viel Erfolg belohnten Schaffens, in denen ihm Luise als vorzügliche Hausfrau und ihn ganz verstehende Freundin die Heimat geben konnte, in die sein ins Weite strebender Sinn doch immer wieder gern zurückkehrte. In dieser Zeitperiode, die A. Thieme später seine ‚romantische Jugendzeit’ nannte, kam er in Verbindung mit vielen bedeutenden Männern, z.B. Nicolay[10] in Wiburg, Weltumsegler Krusenstern[11] und F. M. von Klinger[12]. Seume[13] besucht ihn 1809 auf seiner Nordlandfahrt. Von seinen Collegen erwähnte er oft Tappe[14] und Purgold[15] aus Gotha.
Ein Söhnchen wurde Thieme’s geboren; es erhielt den Namen August und wurde dort russisch Gustinka genannt. Doch starb es nach einem Jahre wieder, von den Eltern tief betrauert. Dem Andenken an sein kleines Leben widmete der Vater das in seiner Gedichtsammlung uns erhaltene Gedicht: „An meine Luise, beim Tode ihres lieben Kindes“
Im Jahre 1809, am 23. Dezember, nach dem damals in Russland üblichen „alten“ oder julianischen Kalender, das ist am 3. Januar 1810[16] nach unserer der gregorianischen Zeitrechnung, wurde Theodor, unser Großvater geboren. Die Freude war groß, wenn auch das tote Brüderchen, das noch oft erwähnt wird, unvergessen blieb. Durch diese Erinnerung war das Glück der Mutter nur tiefer und inniger geworden. Der Vater schreibt: „möge diese sanfte Melancholie über Theodors ganzem Leben ruhn, sie ist mit der stillen Jugend so sehr befreundet“.
Welchen Namen sollte der Knabe erhalten? August wie der Vater? Aber Gustinka war gestorben mit seinem Namen, und es schien, als raube man dem verstorbenen Lieblingskinde von seiner Eigentümlichkeit und von seinem Andenken.
Justus Hermann
Theodor – denn der Gerechte ist auch der Göttliche.
Theodor als Rufname. Theodor-Dorinka – wie lieblich klingst von Mutterlippen.
Herrmann
(!sic) sei dann die zweite Weise Theodors, „der Deutsche“ – der Herr seine
selbst – „der Mann“.
So erhielt unser Großvater den Namen Justus Hermann
Theodor.
„Theodor-Dorinka – Gottesgabe! – Die uns gegeben war, als wir’s nicht vermuteten und die so der Mutter Leben erhielt. Ein Name der uns und ihn Ergebung lehrt und uns erinnert, woher wir stammen und wofür wir danken sollen. Der Tauftag wurde der letzte Tag im Jahre[17].
Der Großonkel Wahl (Probst Wahl in Wiburg) hielt selbst das Kind – Luise trocknete eine Thräne, als ich ihr das Kind brachte, das an der selben Stelle getauft wurde, wo Gustinkas Sarg stand. Sie haben ihm ein Mousselinkleidchen mit Schleifen gemacht und auf sein Mützchen Papierröschen von dem Bäumchen gesteckt, das mir einst Gustinka bescheren mußte.
Draußen auf den Straßen rumpelten die Schlitten der Neujahrsgratulanten – ein Fest jagte das andere. Wir waren den ganzen Tag mit uns allein. In der Neujahrsnacht um 12 Uhr legte ich Gustinkas Bleitierchen in einen Löffel und siedete über dem Licht – Luischens Figuren wurden zu glückverheißenden Zukunftszeichen. Wie glücklich waren wir da an unserem grünen Schirm und Toilettenschränklein!
Im Übrigen konnte ich gar nicht die Zeit erwarten, daß das Kind recht viel schrie, daß man es recht deutlich wußte, es sei wieder eins da. Manchmal trat Mama ans Bettchen: „Wach auf und schrei doch ein bisschen, sonst weiß man ja gar nicht, daß ein kleines schönes Püppchen im Hause ist“ und dann standen wir oft beide hinter dem grünen Schirm und hörten eins rechts, eins links, auf seine leisen Atemzüge. Wenn er des Nachts wieder leise und zart weinte in einer feinen Höhe, die kein Instrument erreicht, dann fühle ich im Dunkeln nur nach den Lippenwinkeln der Mutter, um ihr Freudenlächeln zu fühlen, über das neue Kind. Zuweilen nießte er früh, „Gott helf, mein Söhnchen“, hieß es da, das wird recht wachsen. –
Bald drehten sich die Äuglein wieder nach dem Lichte, – die ersten Bewegungen der kleinen Menschenhand waren – hinauf und fielen von selbst zusammen wie zum Gebet! Ach so liegt der Mensch am Anfang und am Ende, er scheint bewußtlos, hie und da schon den Ausdruck der Hoffnung und der Ergebung und der Bitte um Erbarmung gegen seinen irdischen und himmlischen Vater zu tragen. – Dora war noch nicht 14 Tage alt, als schon feine Härchen abgeschnitten und zu den beiden anderen Bruderlöckchen in unsere Medaillons gelegt wurden. Dazu schrieben wir damals recht viel Gutes auf die linke Seite
jedes Medaillons, das jeder von uns erst nach seinem Tode lesen sollte und – das ich auch noch nicht gelesen habe.
Das Kind hatte einen schweren Anfang. Schon war der arme Dorinka aufgegeben – sichtbare Aschenfarbe war sein ganzes Körperchen, sein Atem war fast ganz abgestorben; – fast zwei Tage hörten wir nur ein leises Röcheln. Luise verzweifelte – ich tröstete – sie schlief ohnmächtig ein. Für mich war es eine schwere, ruhelose Nacht. Nach einigen Stunden, als ich wieder ein leises Tönchen vom Kinde hörte, rüttelte ich die überreizte Mutter gewaltsam wach – sie flößte ihm aus dem Saugglase Milch in den zugeschwollenen Mund und – es war gerettet! – ach, diese Morgen hintereinander, welch ein Gemisch von großer Wehmut und Freude, wenn das Kleine zuerst sein Fingerchen ums Saugglas legte und dabei seine kleinen Zeh’chen zeigte, die wie Erbsen in einer Schote nebeneinander lagen.
Es war noch tiefer Winter im Winterlande, alles noch Stubenleben hinter doppelten Fenstern. Wo die Sonne hinfiel, auf die Diele, da wurde der grünseidene Regenschirm drüber gespannt und ein Kissen darunter gelegt, wo er wie in einer Hütte saß. –
Gegen Frühjahr bekam er ein purpurrotes polnisches Mützchen mit weißen Daunen besetzt, und wenn wir ihn uns auf der langen Brücke nachttragen ließen, leuchteten seine roten Bäckchen wie Flammen im Frost und alle Russen und Kinder beschenkten ihn.
Bals zeigte er, was er wollte. Der Mensch beginnt mit Zeichen, ehe er spricht und mit Zeichen endet er wenn er nicht mehr sprechen kann. Alles ist Kreislauf. Die neue Amme hatte viel Melodie und sang ohne Aufhören. Dora schwebte immer auf ihren Armen, immer im Fluge, immer im Takte, als sollte er gewöhnt werden, einst Orchester zu dirigieren. War der eine Arm müde, so kam er auf den anderen und immer schwebte dabei sein Fingerchen wie ein Fächerchen in die Höhe oder hielten von Neuem Gustinkas rotes Bällchen.
Musik mußte er immer haben, entweder ein halbes Dutzend silberner Löffel zum Läuten zusammen gebunden, oder sein Blechtambourin von der Kaffeemaschine, wenn wir beim Frühstück saßen. – O warum bleibt doch der Mensch nicht so wunderschön, wie Dora damals war. Mama ließ ihn nicht von sich; seine Kleiderchen standen ihm so lieblich und die große Halskrause machte das zarte Hälschen und runde Pflaumenköpfchen noch
unschuldiger. Luischen legte jetzt gar großen Werth auf jedes einzelne Kleidchen, weil es kleine Erinnerungshäutchen an ihr eigenes kleines Dasein waren. – Das linke Öhrchen wurde für schöner erklärt und hatte wie ein Müschelchen eine Perle in sich; das rechte war etwas mehr angelegt, weil die Mama, die ihn immer auf dem linken Arme hatte, zu viel darauf geküßt hatte. –
Die Amme meinte es auch gut mit ihm. Sie schläft auf dem Diwan und ihr Fuß lag immer auf der Boie[18]. Sie sprach im Schlafe vom Kinde und Dora träumte auch von ihr und der Mutter. Mir war er damals noch zu quackelig und Mama sagte dann wohl; „Der garstige Papa läßt das Kind schreien. Weil du noch nicht hübsch dick und rund bist, wirst Du verachtet, aber ich werde dich allein lieben und wenn du hernach hübsch bist, sollen sie dich auch nicht kriegen.“ – Zuweilen machte er aber das Geschrei zu arg und dann sang sie ein Lied vom Schafe mit dem Kehrreim: „Papa ist ein braver Mann, der Dorinkas Trotzchen vertreiben kann“.
Dabei nennt ihn aber doch Ernst (einer der Wiburger Vettern Wahl) immer den kleinen Papst, dem alle Welt die schönen Füße küßt, oder den Hausgötzen, dem man das Maul mit Brei schmiere und den man anbete. – Der erste Sommer ging vorüber, wie viel haben ihn sein Onkel Paul (Paul Wahl), die kleinen Lehmanns und alle Schulkinder mit Blumen beschenkt. Wie vielmal war er schon mit auf der Droßka aufs Land und im Boote mit auf die Inseln gefahren und hatte sich da im Grase gewälzt. Mama wollte gern ersaufen aber – das Kind – hieß es, wenn die Amme schlecht in den Klippen ruderte. –
Der Winter kam wieder. „Siehst Du“ sagte Mama, als es schneite „der liebe Gott schüttelt sein Bettchen auf. Siehst Du, so schöne weiße Federchen fliegen da herum“. – Aber der Schnee war zur Morgenzeit gefallen und die Mutter trug sich mit lieben Sorgen, weil dies nach dem russischen Volkswahn viel Kindergräber prophezeite.
Nun kam er nur noch wenig von der Mutter Arm. Bald ließ sie ihn die Büste des Kaisers streicheln: „Der gute Mann!“ – bald verlangte er nach dem Fenster, und führte Mamas Hände an die Scheiben, wollte den Mond haben, den sie ihm geben sollte. – Schon saß er auf der Diele allein oder auf dem schwarzledernen Sopha, guckte mit seinen großen blauen
Äugelchen und Wuschelköpfchen in alle Schubkästen und warf seine Spielsachen weit umher, die der Papa mit blinden Schicksalsschritten zertrat. – Seine liebsten Sächelchen waren Gustinkas Vögelchen noch zu den seinen, wo er immer eins mit dem anderen verglich, Mamas goldene Nadeldose oder meine Uhr, die er mit gar großer Neugierde ans Ohr legte und behorchte. – Schon taumelte er wie ein Betrunkener an einem Finger der Amme sich anhaltend im Zimmer umher und zerbiß alles Papier, das man ihn nehmen ließ, mit den Zähnchen. – Sein Bettchen war nun bleibend vor dem unseren. Er küsste das große Weiße daneben, als wollte er das kleine Schwarze hinwegschmeicheln – er schenkte seine Nüsse hinein und weinte mit Oma und seiner Mama dazwischen um die Wette, um endlich, da Alles umsonst war, einzuschlafen. Er küßte einschlafend Mamas Hand und früh, wenn er
erwachte, saugte er oft schon mit rot geschlafenen Bäckchen an seinen rothen Zehen.“ – –
So plaudert das liebe einhundertdreißig[19] Jahre alte Tagebuch von den ersten Lebenstagen unseres
Großvaters Theodor Thieme. Fast unleserlich ist heute die Schrift auf den alten Blättern und mancher veraltete Ausdruck für uns schwer verständlich und doch möchte ich nicht ein Wort davonmissen oder verloren gehen lassen, denn diese lieblichen kleinen Schilderungen sind doch wie verklärt und geadelt von der Sprache des Dichters und den immer fesselnden Gedanken des allen Geschehens bis auf den letzten Grund nachspürenden Naturphilosophen. –
So schien die kleine Familie nun ihre festgegründete Existenz zu haben in Finnland, im Lande der tausend Seen, das für sie keine Fremde mehr war, das ihnen lieb und vertraut geworden war mit seinen tiefen Wintern, in denen sie die Wölfe in den Wäldern heulen hörten und den blühenden Sommern mit ihrem reichen Blumenflor. – Sie dachten wohl voll Sehnsucht zurück an ihre geliebte goldene Aue und hofften auf ein Wiedersehen, aber daran, ein reiches Wirkungsfeld wieder aufzugeben, die jungen Seelen zu verlassen, die mit große Liebe an dem deutschen Lehrer hingen, dachte August Thieme vorerst noch nicht.
Da – es war im Jahre 1811 – kam ein Ruf aus der alten Heimat – der dringende Sehnsuchtsruf der Mutter nach ihrem nun einzigen Sohne. Augusts Vater, der Pfarrer Gottfried Thieme in Niederröblingen, war im März 1804 gestorben und ihm folgte schon ein Jahr[20] später als cand. theol. in Jena, Augusts älterer Bruder Gottlob. Die Mutter, die als Witwe in Niederröblingen lebte, sehnte sich nun sehr nach dem fernen, ihr noch gebliebenen Sohne. So entschloß er sich im Jahre 1811, sie zu sich nach Wiburg zu holen und traf seine Vorbereitungen für die Reise und längere Abwesenheit von Wiburg. Er kam bei seiner Behörde um einen Urlaub ein, der ihm auch – freilich erst nach langem Warten – bewilligt wurde. Es fanden sich Freunde, die wie er, in die Heimat zurückreisen wollten; an sie konnte er sich, falls sein Urlaub noch rechtzeitig eintraf, mit anschließen. So hieß es denn, bald Abschied nehmen von Frau und Kind, die er wohl nicht leichten Herzens so allein, wenn auch in der Nähe lieber Verwandter, mit den Dienstboten im Hause zurück ließ. – Luise fand sich nur sehr schwer du wohl nicht mit frohem Gesicht – wenn sie sich auch ihrem Mann zu Liebe ohne Widerspruch gefügt hatte – in die lange Trennung. Doch sandte sie „ihrem lieben guten Herzensmann“ gleich ein Briefchen nach, das der Familie erhalten blieb (Fliegeroffizier Wolf Thieme in Allenstein)[21], in dem sie mit rührenden Worten, Alles verstehend und Alles versprechend, noch einmal Abschied nimmt. –
Von diesen letzten Tagen vor seiner Abreise aus Wiburg erzählt das Tagebuch:
„Der Frühling traf ein mit seiner finnischen Hast – und mein Urlaub kam an – er kam zu spät, ich mußte allein reisen. – Wir packten ein. Dora ging schon fester an fremder Hand herum zu allen Sachen, die auf der Diele standen. Er schleppte eilig die Katze herbei und legte sie auch mit hin, trug Papa’s Stiefel hin und her oder versuchte von Mamas Schlüsseln einen nach dem anderen, um den Koffer aufzumachen. Ach – wievielmal hab ich Dora da im Stillen geküßt, daß es niemand sah, weil ich von ihm sollte.
Der Abschied kam. Die Schulkinder weinten auf dem Hofe – Dora wollte durchaus mit auf die Droßka. Allen Wagen, die nach Wiburg fuhren, gab ich im Geiste Grüße mit an mein liebes Kind und schickte ihm von Petersburg einen Kegelschub und eine schöne Puppe, so groß wie er selbst.“
Von der Heimreise unseres Urgroßvaters August Thieme nach Deutschland und von dem Wiedersehen mit seiner alten Mutter und den Verwandten Wahl in Erfurt und Gispersleben ist keine nähere Nachricht auf uns gekommen. Aber wir wissen, daß er nicht mehr nach Wiburg zurückkehrte, weil sein Plan, die alte Mutter mit sich zu nehmen in die eigene Häuslichkeit, sich so nicht verwirklichen ließ. Die Ärzte sagten ihm, daß die alte Frau eine so weite Reise nicht würde überstehen können. So gab er ihr zu Liebe Wiburg ganz auf und bat in Dorpat um seinen Abschied. Dannkam er beim Oberconsistorium in Weimar mit dem Gesuche ein, ihm ein geistliches Amt zu übergeben. Bei der damaligen Kleinheit des Herzogtums Weimar war nur eine einzige Stelle vacant, das Diakonat Lobeda bei Jena mit der Filiale Wöllnitz, das damals nur ein Einkommen von 300 Thalern (900 M) hatte. Er nahm es an und schrieb seiner jungen Frau: „Verkaufe
alles und komm hierher mit den Kindern, ich erwarte dich in Erfurt im Hause deines Vaters.“ –
Luise, die uns als sehr zart und fast kindlich aussehend geschildert wurde, handelte nun mit großer Selbständigkeit und Energie. Sie löste den Haushalt auf, verkaufte alles Überflüssige und brach dann auf im Reisewagen mit dem kleinen Theodor und dem im Juli geborenen Alexander, begleitet von einem Bedienten und einer russischen Amme. Im Wagen wurde die lange, beschwerliche Reise zurückgelegt über Riga, Königsberg, Frankfurt a. d. O. und Leipzig nach Erfurt. Fast ein Vierteljahr waren die Reisenden unterwegs. Am Johannistor in Erfurt nahm Vater August seine Familie in Empfang. Als er seinen Theodor auf den Arm nahm, schrie das Kind laut auf und wehrte sich – in dem fremden großen Mann hatte er
seinen Vater nicht erkannt.
Das Tagebuch erzählt von der Heimreise unserer Urgroßmutter Luise:
„Mamma mußte bald auch reisen. Dora war ihr eine große Sorge und Last. Bis Petersburg gings noch an, wo ihm Bossen’s[22] soviel Schönes schenkten und ich so liebten. Sein großer rußischer Soldat kamnoch von daher – er war sein Reisegefährte, mit dem er nun schon ein ganzes Jahr gespielt. Unterwegs aber, ob er gleich ein paar Bonbons aß, ritt er der armen Mamma die Beine bald entzwei und ließ sie nicht einen Augenblick von sich. Ein großer Hund warf ihn einmal um; noch trägt er das Mal davon an einem Bäckchen. Das war, Gottlob, das einzige gefährliche Abentheuer auf der fast drei Monate langen Reise im fürchterlichsten Wetter!
Da kam er – endlich mit seinem Brüderchen am Erfurther Thore an (den 19. November 1811) und kannte seinen Pappa nicht mehr! – – –
Die Gispersleber, denen ich soviel von ihm erzählt, kamen noch in der Nacht eine Stunde mit der Laterne weit herein, um das schöne Kind zu sehen – ! Gottlob! Nun hörte ich wieder in dunkler Nacht mein kleines Söhnlein saugen und Dorinka athmen.
Noch konnte er nicht sprechen außer wenigen verstümmelten russischen Worten, womit er wie ein Ganymed um Tisch ging. Mamma machte ihre Künste mit ihm vor; er hatte Töne der Thiere nachmachen gelernt und
sein bä, wau und muh bedeuteten Schäfchen, Hund und Kuh u.s.f. – Hier bekam er eine große Regimentstrommel, Trompete und allerhand Schönes noch unter den Christbaum, – aber er schrie noch kläglich, wenn man aus dem Zimmer ging und Onkel Lu konnte nicht genug Hasen und Schafe im Schattenspiel an der Wand machen, ihn den Finger an die Stirn legen zum Denken und den Takt schlagen
lehren.
Endlich gings wieder auf die Reise nach Lobeda zur eigentlichen Heimath. Ich trug Dora selbst, aus dem Wagen steigend, im blauen Wattmantel, die steile Schneise hinunter und hielt ihn dann im Arme, bis er zum ersten Mal in seinem Lobedaer Bettchen lag. Jetzt war er erst recht wieder mein.
Den Winter über 1811-1812 kam er noch wenig aus. Tante Lina war noch bei uns, die mit Hülfe des Mops in allen Winkeln der Stuben oben und unten mit ihm spielte. Seine fast größte Freude und Begierde war der Flügel, dessen grünes Wachstuchleder er wenigstens immer aufhob, um das melodische Geheimnis darunter zu suchen. Ward es aber aufgemacht, dann griff er bescheiden ein paar Tönchen im klaren Diskant und wieder ein paar im Baß und küßte die Tasten, als wollte er sie dafür lieben, daß sie ihm Freude machten;
so wie er auch seinen Soldaten und seinen hölzernen Daunenhund, welcher pfiff und den er deshalb für lebendig hielt, küßte, wenn er hingefallen war, als wollte er’s wieder gut mit ihm machen.
Aber ein noch weit größerer Gegenstand
seines Entzückens, der ihm immer lieber wird, je mehr er ihn versteht, ist der
alte Basedow, den ich schon als Kind durchblätterte, über den wir oft in Wiburg
noch sprachen und den wir hier noch wiederfanden. Eine ganze Welt war vor ihm
darin aufgethan. Essen und Trinken und Schlafen wird über diesen Bildern
vergessen, zumal wenn Pappa oder Mamma eins davon bunt pinselt und erzählt, wo
er mit heftiger Spannung aufpaßt, bis er ganz blaß wird. –
Sein Brüderchen aber, das Kleine, wie er’s
nennt – liebt er doch über alles, selbst über den Basedow, ob er ihn gleich oft
etwas neidisch wegnimmt. Um ein gutes Wort schenkt er ihm Alles, was er hat,
geht mit wahrer zärtlicher Inbrunst um ihn her, küßt und beit[23]
und streichelt ihm alle Gliederchen oder setzt sich ganz sanft neben ihn auf
die Diele; wenn er ihm auch mal einen täppischen Klaps giebt, so küßt er desto
schneller zur Abbitte hinterher und schenkt ihm wieder seine Blumen, Muscheln,
schöne Steine und wohl gar das Steckenpferd mit der Schelle.
Des Abends, wenn ich müde bin von Arbeit,
setzt er sich auf meinen Schoß und will erzählt haben vom großen Wagen, von der
Reise, vom Hunde, der ihn umwarf, vom Wolfe, der das Schäfchen holte, jetzt
will er schon mehr wissen von den Rittern, die sonst in der Burg wohnten, und
von anderen Bildern im Basedow. Lange haben ihm die Engel Unterhaltung gegeben.
Der Vater der Engel ist der liebe Gott – Jesus ihr Onkel – Maria die Tante. Der
liebe Gott steckt des abends den Mond an, daß die lieben Engelchen sehen
können, um herunter zu steigen an Dora’s Bett, wenn er gut gewesen ist und dann
sitzt er mit gefalteten Händchen: „Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den
Himmel komm!“
O könnte ich doch, gutes Kind, immer alle
Menschen von dir zurück halten, die dir sagen werden, daß es nicht wahr sei,
daß die Engel im Monde wohnen und daß die guten Menschen in den Himmel kommen
und daß es schönere Orte giebt als deine Heimat! – Wir armen großen Kinder.
Warum haben wir die halbe Welt gesehen außer der Heimath? um nach einen halben
Leben zu wissen, daß es nicht der Mühe Lohnt sie gesehen zu haben.
Ach es ist so gut, daß auch dieses Kindes
Knospen hier aufspringen, in unserem Vaterlande, in diesen deutschen Thälern,
besser gewiß als zwischen den finnischen Morästen und den Petersburger
Eispalästen. Gewiß wird es hier länger seine Sinnigkeit bewahren – gewiß wird
hier durch die stille gleichmäßige Beschäftigung unseres kleinen häuslichen
Zirkels sein Geist ein kräftiger werden und dadurch sein Gemüth nicht
verlieren. Dora hat viel durch seine Lage vor anderen Kindern voraus. Er hat
lauter kindliche Herzen um sich – er wird überall nur mit zärtlicher Liebe
berührt, behält dadurch länger die glückliche Zutraulichkeit zu allen Menschen.
Er sieht hier die Angst des Lebens nicht, sieht nicht den Schmutz und Mangel in
seiner groben, drückenden Gestalt, und leidenschaftlich grobe Wuth der Eltern;
– und wenn er das zu seiner Zeit auch erleiden muß, so verliert er doch nie die
heilige Scheu vor allem Unwürdigen, das ihm unmöglich ist und behält länger
seine Engelsfittige. O, bleibe nur treu, du gutes Kind, auch als Mann; und
ziehen sich dann späterhin Wolken auf deiner Stirn zusammen, so seien es nur
Lämmerwolken, die wenigstens nicht blitzen noch donnern oder gar jemanden
erschlagen.
Das, was seinem ganzen Wesen am meisten
entspricht, ist seine liebe Stimme. O Menschenstimme, wie warst du mir so
heilig und gingst mir so durchs tiefe Herz, als hier. Es ist als wäre seine
Zunge ein schwammig Fühlhörnchen, das sich fürchte an die Luft zu stoßen, damit
es ihr nicht wehe tue; alle Töne bitten und schweben wie weiche Federchen im
Winde, die nicht zu Boden wollen. Alle Bitten, alle Anreden sind noch aus
reinen Noten im weichsten Piano gesetzt. Beim Liede vom Hüttchen hat er eine
ganze Periode hindurch immer geweint, sobald die ersten Töne davon angeschlagen
wurden; vielleicht wars ihm dunkel erinnerlich, wie mit diesem Liedchen seine
Mamma ihn so manche Nacht herumgetragen, um ihn einzuschläfern. Doch auch
andere weiche und sanfte Gesänge machen ihn schwermütig. Zuweilen ist mirs, als
läge das künftige Schicksal des armen Kindes in diesen klagenden, bittenden
Tönen, als habe er nur wenig Bitten in einem kurzen Leben und thäte diese so
zärtlich. Sind diese Töne nicht wenigstens Ahnungen reicher Gedanken und werden
immer alle widrigen Menschenkinder von ihm entfernt sein und – wird dieses
fromme, sanfte, ganz in Liebe getauchte Wesen, das so leise stundenlang für
sich spielt, um ein Schlafendes nicht zu wecken, einst vielleicht schrecklich
aus seinen Träumen geweckt werden? Wird dieser freidvolle Busen, den auch der
schlimmste Tag noch zehnmal entzückt, – wird diese zärtliche Röthe der Wangen,
dieser träumende Verstand, der Blumenschlaf dieser zarten Augen einst unter
Misshandlungen harter Menschen, unter Seufzern, Flammen und trostlosen Thränen
sich hoffnungslos verzehren? Noch liegt er in unseren schützenden Armen, – o
Gott- wenn sich einst Leidenschaften seines armen liebinnigen Herzens
bemächtigen, – dann laß ihn den schweren Kampf bestehen – als Engel.
Soweit für diesmal. Dora hängt jetzt noch an
uns allein. Er wird erschrocken zum Tode, wenn Mamma im Bade untertaucht, wenn
Pappa am Saaleufer hinunter zum Wasser geht. Es ist ihm Strafe, wenn ich
seinetwegen das Zimmer verlasse. Er kann es nicht leiden, wenn wir zu Mittag
beide schlafen; Eines wenigstens muß erhaben. – Dorinka folgt noch auf jedes Wort
der Liebe. Ein Wink macht ihn still wie ein Mäuschen, wenn Pappa studiert. Er
hat uns noch keinen Ärger gemacht; er hat noch nie gelogen –
Dora wächst täglich und macht uns immer mehr
Freude. Schon kann ihn Mamma nicht einmal mehr Huckepack tragen; schon erzählt
er aus Basedow wieder und giebt seinem Brüderchen altklug, darin Unterricht; –
er weiß schon einige Buchstaben und wird nun gar bald schöne neue Kleiderchen
anziehen können. – Mamma bringt ihn früh wenn er aufgestanden ist, gewöhnlich
erst zu mir und er sagt sein: „Gut Moog Thiem“. Ich küsse ihn dann auf die
Stirn und sage: „Guten Morgen Junge! Werde gut, wenn du groß wirst“ und Dora
antwortet: „aba Doja is jetz’ schon klein“.
Dies unseres Großvater’s Theodor Thiemes erstes Erwachen zum Leben!
Urgroßvater August Thieme schreibt
darüber selbst:
„ – – –
einige kleine Erinnerungen an Dora’s erste drei liebe Jahre, die uns
soviel Freude gemacht. Vielleicht – wenn ich einmal lange tot bin, erquickt er
sich noch in seiner Mannesgeschichte eine Stunde an seiner reinen
Kindheitsgeschichte. Könnte ich meine eigene so lesen!“
Diese letzten
Tagebuchaufzeichnungen sind schon geschrieben im Pfarrhaus zu Lobeda bei Jena,
wo August Thieme zunächst mit den
Seinen ein Unterkommen gefunden hatte. Einen gewaltigen Wechsel gegen frühere
Lebensgewohnheiten und Umgebungen hatte damit die kleine Familie durchleben
müssen. Aus dem hohen Norden kommend, wo die Urgroßeltern ein für deutsche
Begriffe hochherrschaftliches Haus mit viel russischer Bedienung zurücklassen
mussten, kehrten sie heim in ein verarmtes, unter fremder Herrschaft seufzendes
Deutschland. Alle Kassen waren leer in jener Zeit – Gehälter wurden nicht mehr
ausgezahlt, denn die Kriegsabgaben gingen stets vor und so mußten die jungen
Pfarrersleute sich kümmerlich durchschlagen – etwas früher Erspartes wird ihnen
auch wohl geholfen haben. Aber das rein Materielle war dem Dichtermann Thieme nie die Hauptsache, er empfand
mit inniger Freude das Glück, an einem der reizvollsten Fleckchen des Thüringer
Landes, im sonnigen, sagenumwobenen Saaletale mit seinen frisch grünen
Wiesen und steilen Berghängen eine
zeitlang wirken und leben zu können. So lesen wir in einem lieben, seiner Frau
gewidmeten Geburtstagsgedicht im Oktober 1812:
„Hör’ es mochte doch gescheiter sein, daß
wir hergereist sind alle Beide! Unter’m Vierundsechzigsten der Breite, schneit
uns jetzt bereits der Winter ein“
Und Luise selbst? Schwer war
gewiß für die junge Hausfrau diese Übergangszeit, aber sie war viel zu sehr
gewöhnt, mit ihrem Manne zu denken und mit seinen Augen zu sehen, die überall
das Schöne suchten und fanden, als daß sie jemals geklagt hätte. Ein treues
Menschenkind hatte sie um sich, das war die Amme der Kinder, die ihre russische
Heimat verlassen hatte, weil sie sich von der Familie nicht trennen wollte. Sie
hieß Marie und hat Thiemes noch nach Ilmenau begleitet, wo
sie bis 1815 blieb. Sie hing mit besonderer Liebe an dem kleinen Theodor, dem
sie einmal ein Bildchen schenkte, das ich noch besitze. Es zeigt zwei Engel mit
großen Flügeln, die vereint auf ihren Armen ein Kindchen tragen. Darunter stand
nun ganz verwischt: „So mögen die Engel
Dorinka durchs Leben tragen“.
Der Aufenthalt in Lobeda war kurz
– nur etwas über ein Jahr blieb die Familie dort – aber reich an lieben und
merkwürdigen Erinnerungen war auch diese Zeit. Im nahen Jena hatte man leicht,
wie auch in den Pfarrhäusern der Umgegend, anregenden Verkehr und
freundschaftlichen Anschluß gefunden. Besonders viel verkehrte A. Thieme in den Familien der
Professoren Schott[24]
und Danz[25].
Aus A. Thiemes Aufzeichnungen um 1812:
„Der Krieg hatte das ganze Tal überschwemmt
und den ganzen Winter sind noch die Reste der in Rußland verunglückten Armee
und im Frühling neue Truppen aus Deutschland und Frankreich ohnweit unserer
Fenster vorüber gezogen. Da wurden die Kinder täglich hingeführt, um sich an
den Kanonen, an der Schiffbrücke, an Pferden und Fahnen recht satt zu wundern!
– “
„In diesen stürmischen Winter fiel auch die
Geburt der kleinen Marlinka. Die Kinder konnten nicht genug nach ihr fragen und
kamen nicht von ihrem Schlafkörbchen weg. Dora beurtheilte ihre Äugelchen,
Fingerlein und Füßchen und wenn sie die Hände zusammenbrachte, rief er: „Weste
(Schwester) will beten!“ Nach elf Tagen war ihnen diese Freude genommen und ich
bedauerte bei diesem Todesfall den armen Dora am meisten, dem hier ein reines
Entzücken aufzugehen schien. Nach ihrem Körbchen fragte er dann gar zu oft.“ –
– –
In diese Lobedaer Zeit voll
äußerer und innerer Leiden und Erschütterungen fiel noch ein ganz besonderes
Erlebniß, das nicht verloren gehen soll, weil es uns so recht zeigt, wie heiß
und bewegt, aus allen Quellen sprudelnd, auch das Leben unserer Vorfahren war,
so daß man immer schöpfen, immer festhalten möchte, was da an bunten, lebensvollen
Bildern am inneren Auge vorüberzieht. – Es war an einem kühlen Herbsttage – der
Wind fegte rau über die Wiesen, da hatte Pfarrer Thieme in Lobeda eine Beerdigung zu halten. Während er
sprach stand ihm gegenüber an der Mauer des Friedhofes ein junger Student im
Burschenhabit der damaligen Zeit. Seine langen Haare flatterten im Winde und er
folgte aufmerksam und sichtlich bewegt den Worten des Predigers. Als die Feier
zu Ende war, stürzte der junge Student auf den Geistlichen zu, fasste seine beiden
Hände und rief: „Sie müßen mein
Freund werden!“ Von da ab ging er
im Pfarrhause, wo man ihn herzlich aufnahm, aus und ein und fühlte sich bald
ganz zu Hause. Er hieß Ernst de Valenti[26],
war der Sohn des Lektors der italienischen Sprache an der Universität in Jena.
Er war in Lobeda geboren und wohnte, da er beide Eltern früh verloren hatte,
mit einer Verwandten auf dem dortigen Schloße. In ihm, wie nicht selten bei
Kindern halb romantischer [romanischer?], halb deutscher Abkunft – seine Mutter
war eine Glöchhausen zeigten sich
bald ganz außerordentliche Talente und Fähigkeiten neben großer Beweglichkeit
des Geistes, Raschheit der Auffassung, ein feuriges Temperament und kühner
Unternehmungsgeist. An diesem geistsprühenden, immer Leben um sich
verbreitenden jungen Schwärmer wird Vater Thieme viel Freude gehabt haben, und
Luise umsorgte neben den eigenen Kindern treu und mütterlich den großen Jungen,
der die eigene Mutter nicht gekannt hatte. Auch auf den kleinen Theodor hat de Valenti einen unauslöschlichen Eindruck
gemacht, denn noch im Alter erinnerte er sich mit leuchtenden Augen der mit de Valenti verlebten glücklichen
Kinderjahre.
Eine heitere kleine Geschichte,
in der de Valenti die Hauptrolle
spielt, erzählte Großvater Theodor Thieme
gern. Es war eine sehr kämpferische Angelegenheit, die Großvater uns mit
geradezu jugendlichem Feuer – so plastisch vortrug, daß wir mäuschenstill saßen
und meinten, alles selbst mitzuerleben. Atemlos lauschten wir, bangten um
unseren Helden de Valenti, der
zuletzt doch unbesiegt aus allen Gefahren wieder erstand und freuten uns
unbändig über den lakonischen Kampfbericht, den er mit Wunden bedeckt, aber
frisch und unverzagt, seinen Freunden dann zusandte. –
So die Erzählung meines
Großvaters:
„Einmal – ein hell leuchtender Sommertag lag über Jena und den grünen
Ufern der Saale – fährt de Valenti
in einem leichten Wägelchen am Diakonate zu Lobeda vor, um unser damals noch
junges Urgroßmutterchen[27]
zu einer fröhlichen Spazierfahrt abzuholen. Sie folgt gern der Einladung, und
fort geht’s in rascher Fahrt über die sonnigen Wiesen und hinein in das bunte
lustige Jena. Sie kommen vor den Burgkeller, vor dem die Studenten auf der
Straße um große Bierfässer herum stehen und liegen. „Macht Platz, Ihr Burschen“
ruft de Valenti, „Laßt meinen
Wagen durch!“ Die Studenten singen, johlen, schwenken ihre Bierkrüge und denken
nicht daran, den Wagen durchzulassen. Noch einmal ruft de Valenti: „Macht Platz! Ihr seht, ich habe eine Dame mit
im Wagen!“ Höhnendes Gelächter – keiner rührt sich von der Stelle. Da richtet
sich de Valenti im Wagen auf und
ruft laut in die Menge hinein: „Ihr seid alle miteinander dumme Jungen!“ – dann
wendet er ruhig den Wagen um, fährt durch die Leutrastraße und weiter durch
Jena nach Lobeda zurück. Urgroßmutter ist halb tot vor Schreck, sie weiß, was
ihr junger Freund sich da eingebrockt hat. Unmöglich kann er doch all denen,
die er schwer beleidigte, Satisfaktion geben, was soll daraus werden? – Ein
paar Wochen später erhält sie aus irgendeiner Heilstätte in Jena ein Paket. Als
sie es öffnet, liegen darin die über und über blutdurchtränkten Sachen des de Valenti und obenauf ein Zettel, auf
dem nichts weiter stand, als die Worte:
„Siehe, ob dies Deines Sohnes Rock sei!“
De Valenti hatte gegen 50
Forderungen bekommen und sie alle, ohne einen ernstlichen Schaden zu tragen,
tapfer durchgefochten.“ –
Neben mir liegt ein Büchlein, mit
Goldschnitt und in rotes Saffianleder gebunden, rührend in seiner verblichenen
Schönheit, denn es ist sehr alt, die Seiten schon ganz vergilbt, nur die bunten
Bilder noch leuchtend in unveränderter Frische. Dieses Buch, eine der ersten
Ausgaben von Schillers „Wilhelm
Tell“, schenkte de Valenti einst
beim Abschied unserer Urgroßmutter. Die Widmung auf der ersten Seite ist sehr
verwischt, jetzt nur mit dem Vergrößerungsglase zu erkennen, sie hieß:
„Dem lieben Luischen, für alles Liebe und Schöne von ihrem Ernst de Valenti.“
De
Valentis späteres Leben, das nun klar vor mir liegt bis zum Ende, ist
reich an Merkwürdigkeiten. Er studiere Medizin, kämpfte 1813-14 als
freiwilliger Jäger mit im Befreiungskriege, wurde dann 1818 Arzt in Sulza, wo
ihn August Thieme mit seinem
kleinen Söhnchen Theodor einmal
besucht hatte. Er wurde ein tüchtiger Arzt, seine Praxis wuchs zusehends, weil
er mit seiner besonderen Heilmethode, wohl auch mit ihm eigenen magnetischen
Kräften wunderbare Heilerfolge erzielte. Auch Mittelpunkt der Geselligkeit war
er durch geistreiches Wesen, sprudelnden Witz und musikalische Talente. Später
hat er viel geschriftstellert und seine, ein sehr feuriges Temperament und eine
fast schwärmerische Liebe zur Menschheit verratenden Schriften sind bis über
Deutschlands Grenzen hinaus bekannt geworden. Heute noch wird sein Name in der
Literatur jener Zeit mit genannt. Er wohnte zuletzt in Basel und ist dort im
Jahre 1871 gestorben.
In seinen Jugenderinnerungen hat
er sich auch über unseren Urgroßvater August
Thieme geäußert, er sagte von ihm:
„Die Liebe zu ihm war in der Tat für mich der Schritt in den Vorhof der
Wahrheit selbst. Er stimmte die ungeordneten und verworrenen Saiten meines
Herzens zurecht und lockte den ersten wohllautenden Accord meines mündigen
Lebens daraus hervor“. —
Die erste Biographie de Valentis fand ich vor vielen Jahren
schon in der Jenaer Universitäts-Bibliothek. Erwähnt wurde dort auch ein
Pfarrer A. Th. (unser Urgroßvater)[28]
als väterlicher Freund dieses so auffallend reich und vielseitig begabten
jungen Thüringers.
Im Jahre 1813 wurde August Thieme nach Ilmenau versetzt als
Diakonus mit 400 Thalern Jahresgehalt. Er wohnte in Ilmenau im Diakonate in der
Schloßgasse. In dem dicht am Walde gelegenen von hohen Bergen umgebenen
thüringer Städtchen, das auch Goethe
oft und gern aufsuchte, fühlte er sich mit seiner Familie sehr wohl, und er hat
später die 9 ½ Jahre, die er in Ilmenau zubrachte, zu den schönsten seines
Lebens gezählt.
In Ilmenau wurden Thiemes 3 Kinder geboren:
am 14. Mai 1816 Otto, der nachherige
Arzt, der 1872 in Burlington in Nordamerika gestorben ist, dann noch Raphael und Luitgarde, welche bald starben.
Für den großen Naturfreund August Thieme
war nun Ilmenau ein Platz, wie er ihn glücklicher und passender nie hätte
aussuchen können. Mit seinem Amt nahm er es sehr ernst, aber in den freien
Stunden, die ihm blieben – er stand früh um 4 auf – streifte er viel in den
Bergen umher und brachte von da seine schönsten Gedichte mit heim.
Nun können wir ihm, dem zart und
tief Empfindenden, recht erkennen, wie so oft im Menschen die größten
Gegensätze sich vereinen. Eine fast rauhe Strenge war ihm eigen. So hielt er es
für richtig, seine drei kleinen Söhne, denn auch der Otto gehörte bald dazu,
sehr abzuhärten. Die beiden großen weckte er oft schon vor Sonnenaufgang.
Die Buben waren wohl ganz nach
des Vaters Sinn, denn sie wanderten gern, waren immer bereit, den Vater zu
begleiten, und auch die Freude am Beobachten der Tier- und Pflanzenwelt hatten
alle drei von ihm geerbt. Da mußte alles untersucht, in Erdlöchern
herumgekrochen und waghalsige Kletterkunststücke geübt werden. Die Mutter, eine
kleine zarte Frau, mag manchmal händeringend in der Tür gestanden haben, wenn
ihre Buben mit leerem Magen fort stürmten, um ein paar Stunden später an Wissen
reicher, aber äußerlich mit allen Spuren ihrer Entdeckungsfahrten behaftet,
zurück zu kommen, dazu hungrig wie die Wölfe.
„Mann was soll das noch werden? wo bleibt da
die Ordnung? Alle Tische und Stühle liegen voll Pflanzen, Steine und Erde. Dora
läuft herum, das Gesicht voll Ackererde. Sascha[29] hat in
der einen Hand das Butterbrot, in der anderen einen ekligen Frosch – sie sind
ja wie die Wilden, und der Kleine, der Otto, läuft immer hinterher, macht den
Großen alles nach, ist schon ebenso wild, was soll das noch geben?“
Da
hat Vater Thieme sie in den Arm
genommen, gelacht und ihr gesagt: „Laß sie nur, das sind eben Jungens – so will
ich sie haben, das werden mal keine Stubenhocker“. 1815 starb die alte
Großmutter Eleonore Thieme, die
mit im Pfarrhaus gewohnt hatte. Theodor
(5-jährig) erinnerte sich später noch gut, daß sie Äpfel in der Kommode gehabt
hatte und wie abends Laternen den Sarg die Schloßgasse hinauf begleitet hätten.
– – –
In
den Jahren von 1812 bis 1815 zogen andauernd Truppen, feindliche wie
befreundete, durch die Städte und Dörfer, und auch die Schloßgasse in Ilmenau
war oft von Soldaten angefüllt. Anfangs fühlten sich die Franzosen noch als
Sieger, plünderten und bedrängten hart die Bewohner der armen Waldgegend. So
sah Thieme einmal vom Fenster aus,
wie französische Soldaten einen Bauern schwer mißhandelten. Er rief hinunter: „Das laßt ihr euch gefallen?“ Darauf sprang ein Student unter die
Soldaten, entriß ihnen den Bauern, und beide sprangen mit großen Sätzen dem
nahen Walde zu, der sie vor den Kugeln der Verfolger schützte und sie so vor
ihnen verbarg, daß alles Suchen vergeblich war. Auch der Rufer konnte nicht
mehr entdeckt werden, weil der Befehl zum Abmarsch gegeben wurde. –
Aus August Thiemes Tagebuch:
„Nachdem
der wilde Herbst vorüber, Durchmärsche, die den ganzen Winter hindurch auch
nicht aufhörten. Da war ein Fensterlaufen und ein sich Aufrecken, um all die
ziehenden Reiter und Kanonen zu sehen. De Valenti war um diese Weihnachten von
seinem Beuthener Zuge wieder hier, der alle Tage mit den Kindern ausging, die
er auch wohl den Tataren aufs Pferd gab, wo sich dann immer Einer dem Anderen
die Kinder zureichte. Einst wird die Erinnerung an diese Ilmenau’sche
Soldatenzeit eine besondere Seite der frühesten Lebensperiode der Kinder
bleiben. Der erste Kosake, der bei uns im Quartier lag, war ihnen ein
Wunderthier. Theodor küßte die Spitze der schweren Lanze bei Tische. Zuweilen
saßen sie auch im Hofe alle Beide auf den Baschkirenpferden, still und Aufrecht
wie Feldposten.
Der
heilige Christ näherte sich. Wir hatten blecherne Flinten und blecherne Säbel
bestellt, eine neue Trommel, eine große Patronentasche und Mütze mit dem
preußischen Kreuz. Dora ging mit mir selbst in den Wald, um Sascha auch ein Bäumchen
abschneiden zu helfen, trugs auch selbst in der Hand herein, wovon er recht
müde wurde. Er half auch den Abendstern putzen und vergolden und meinte dann,
er sei ja groß, da er dem Kleinen einen Baum bescheren konnte. Er sollte nichts
wiedersagen, aber das vermochte er nicht ganz, soviel Freude ihm auch sein
Geheimnis machte, denn das Kind lebt in Wahrheit, das Herz spricht, wo der alte
Verstand klug schweigt. Er verriet’s besonders oben bei den Großen und
vermuthete nicht, daß für ihn unterdeß De Valenti einen so großen Baum aus dem
Walde geholt hatte.
Doch
machten die vielen Waffen, die sie bekommen hatten, sie nur noch kriegerischer.
Sie erstaunten, als De Valenti sie exerzieren lehrte, worüber Alles, selbst der
schöne blaue Schlitten, den ihnen Küster Höhn geschenkt hatte, vergessen wurde.
Sie standen, wenn Regimenter vorbei zogen, in voller Uniform vor der Thür,
präsentierten das Gewehr und riefen etwas hinüber.
Oder sie
zielten auch nach den Soldaten, wodurch ich den Vorteil hatte, daß die Gesichter
sich freundlich nach meiner Seite richteten und ich sie besser sehen konnte.
Zuweilen waren auch Offiziere an unserem Tisch und dann banden sie den Jungen
ihre Orden um, hielten sie vor den Spiegel, ließen sie damit spielen und
erzählten ihnen, wie sie zu Hause auch solche kleine Saschinkas hätten, denen
sie recht viel aus dem Kriege erzählen wollten, wenn sie zurückkehrten. – Auch
Einquartierungsbillets mußte ich schreiben und dann gingen die Jungen als
Führer mit den Soldaten durchs Städtchen, blieben wohl auch bei den Leuten mit
zu Tisch, so daß wir oft nicht wussten, wo sie waren“. –
So weit das Tagebuch aus der Zeit zwischen 1812
bis 1815.
Großvater
Theodor Thieme erinnerte sich
später besonders gern seiner Ilmenauer Kinderjahre, und ich hörte von ihm
selbst noch folgendes:
„Es war im
Frühjahr 1815, als russische Truppen aus Frankreich zurückkehrend, durch
Ilmenau marschierten. Da stand am Wege unter den Zuschauern der fünfjährige Theodor in seiner kleinen russischen
Uniform. Laut und keck redete er die Soldaten in russischer Sprache an. Die
Freude der Russen, mitten in Deutschland ihre Muttersprache zu hören, war so
groß, ein paar Kosaken faßten das Kind, hoben es zu sich aufs Pferd und jagten
nun mit ihm weiter zur Stadt hinaus. Nach ein paar Stunden, in denen die Mutter
vor Angst fast verging, lieferten sie den Kleinen ganz wohlbehalten wieder ab.
Es war ihm nichts geschehen, nur sollte er eine Zeitlang bei ihnen sein, mit
ihnen essen und trinken und ihnen sehr viel erzählen. Nun sprang er vergnügt
den Eltern entgegen, wollte begeistert berichten von seinen Erlebnissen – die
Mutter aber, die ihre Kosaken kannte, wußte, was hier vor allen Dingen nötig
war – sie steckte den kleinen Ausreißer sofort in die große Badewanne, säuberte
ihn sehr gründlich und gab ihm dann erst, mit ganz frischen Kleidern versehen,
an die Menschheit zurück. –
An demselben Tag verschwand die russische
Amme auf Nimmerwiedersehen. Sie hatte sich, von Heimweh gepackt, an die Russen
angeschlossen und ist mit ihnen, ohne Abschied zu nehmen von der Familie, mit
der sie jahrelang gelebt hatte, in ihre Heimat zurückgekehrt.“
Großvater Theodor
Thieme sagt selbst noch in seinen Lebenserinnerungen von jener Zeit:
„Da ich mit einer russischen Uniform
bekleidet war und von unserer finnischen Amme russische Worte gelernt hatte,
war ich ein Liebling der Russen. Sie nahmen mich auf die Arme und küßten mich
mit ihren langen Bärten. Mit den ersten Baschkiren, die noch Bogen und Pfeil
hatten, bin ich mit meinem Bruder in die Stadt eingeritten. – 1816 wurde
Friedensfest gefeiert. Auf dem Markte stand ein Altar, auf dem eine bengalische
Flamme vom Regen erstickt wurde; die Stadt war abends erleuchtet und meine
Mutter schoß mit einer Pistole zum Fenster hinaus“. – – –
Vom Friedensfest erzählt noch die Ilmenauer
Chronik wie folgt:
„Dieses große Fest
wurde am 18. Oktober durch läuten aller Glocken, Kanonen- und Kleingewehrfeuer
früh, noch vor dem Tage angekündigt, während das Lied „Ein Feste Burg ist unser
Gott“ unter Begleitung von Trompeten und Pauken vom Turme musiziert wurde. Bald
nach Tagesanbruch sammelte sich der Landsturm auf dem Markte und zog mit seinen
Schutzdeputierten, Feldhauptleuten, Waibeln und Führern, die alle neu
uniformiert wurden zur Kirche. Statt eines Marsches wurde die Melodie des
Liedes „Nun danket alle Gott!“ unter Trompeten- und Paukenbegleitung geblasen.
Nach einigen Gesängen und vorgelesener allgemeiner Beichte hielt Herr Dr. und
Adjunktus Thieme, ein sehr
beliebter Kanzelredner, eine so passende und vortreffliche Rede vor dem Altare,
daß die ganze Versammlung zu heißen Thränen gerührt wurde. Hierauf genossen
sämtliche Landsturmmänner mit ihren Frauen das hl. Abendmahl öffentlich und
erstere wurden zum Landsturmdienste förmlich eingeweiht und eingesegnet.
Währenddem sammelten zwei Töchter aus Ilmenauer Familien für die Armen ein.
Obwohl wenige hierzu vorbereitet waren, und Geld bei sich hatten, so kamen doch
über dreißig Gulden ein. Zum Beschluß des Gottesdienstes wurde noch das „Herr
Gott Dich loben wir“ unter Begleitung von Gewehrsalven gesungen, und Jeder
verließ tief gerührt die heilige Stätte. – Abends wurde die ganze Stadt
erleuchtet und während der Erleuchtung erhoben sich nach und nach die
Freudenfeuer auf den Bergen – der ganze Horizont schien mit einem flammenden
Gürtel umgeben. Der Anblick war prächtig, die Feuer, die bald erloschen, bald
wieder erwachten, waren unzählig, und die Erde schien so gut gestirnt zu sein,
wie der Himmel. Das bei diesen Feuern häufig geschossen wurde, verriethen aus größeren
Entfernungen die aufschießenden Blitze. Umzüge bewegten sich zu den Anhöhen
hinauf und Dankreden wurden gehalten, die der Tiefempfundenen Freude Ausdruck
verliehen, daß das deutsche Volk wieder frei geworden war“. –
An den
Freudenschüssen hat sich wohl auch das Diakonat in der Schloßgasse sehr kräftig
mit beteiligt, denn Theodor Thieme
erinnerte sich noch im Alter, wie seine Mutter mit einer Pistole aus dem
Fenster geschossen hätte.“ –
Nun, da der
Kriegslärm verstummt war, jeder ungestört wieder seiner Arbeit nachgehen
konnte, kamen auch für die kleine Familie in der Schloßgasse Jahre stillen
Schaffens, in denen es galt, vor allem die Wunden zu heilen, die der Krieg
geschlagen hatte. Dazu wurde noch eine sehr ausgedehnte Gastlichkeit ausgeübt,
die Wunder nehmen könnte in einer Zeit des Wiederaufbaues, die aber doch
möglich war, weil man damals so viel anspruchsloser und einfacher leben konnte,
als in unseren Tagen. – Aus den Ilmenauer Erinnerungsblättern tauchen nun
Gestalten auf, Namen, uns allen bekannt aus der Geschichte jener Zeit. Lebendig
werden sie vor unseren Augen durch die zeitnahe Schilderung ihrer Eigenart und
des mit ihnen Erlebten und wir verstehen sie nun nur besser und halten sie
doppelt wert. So stand Thiemes
sehr nahe der Legationsrat Falk[30]
aus Weimar, der Vater der armen verlassenen Kriegswaisen, für die er
unermüdlich bat und Geld sammelte, um sie, die er oft hilflos am Wege fand, vor
Hunger und Kälte zu schützen. Oft ist er auf seinen Reisen durchs Land in der
Ilmenauer Schloßgasse eingekehrt, wo er neben gastlicher Aufnahme zu reichem
Gedankenaustausch finden konnte. Er ist lebenslang ein treuer Freund des Hauses
geblieben. Auf den kleinen Theodor hat
der große Kinderfreund gleich beim ersten Sehen einen sehr tiefen Eindruck gemacht.
Noch im hohen Alter erzählte er uns Kindern gern von seinem so merkwürdigen
ersten Zusammentreffen mit Johannes Falk.
Ich gebe die kleine Geschichte, die mein Bruder Oskar[31]
einmal gelegentlich einer Johannes Falk-Gedächtnisfeier in der Weimarischen Zeitung
veröffentlichte, mit den Worten meines Bruders wieder:
„Mein Großvater war ein trefflicher
Erzähler. Der Quell seiner Plaudereien war unversiegbar. Wie sein Haus reich
war an guten Sammlungen und merkwürdigen Gegenständen aus den verschiedensten
Gebieten der Natur, der zweiten Welt, des Menschenlebens, so wußte er durch
seine Erinnerungen und anregenden Erklärungen all den toten Einzelheiten Leben
einzuhauchen. Von dem Geist jener Jahrzehnte und ferner Länder verbunden mit
der gegenwärtigen, die Kinderherzen gewinnende Liebe des Großvaters waren wir
alsbald umfangen, wenn uns das Ferienglück blühte, sein stilles Pfarrhaus zu
besuchen. Mit steigender Ungeduld erwarteten wir dann immer die Abende, wo der
Großvater die lange Pfeife anzündete und die Erinnerungen seiner Jugend in die
sich kräuselnden Rauchwolken verwob. Sie reichten zurück in die unter dem
Zeichen Napoleons stehende Zeit
der Not und Erhebung des deutschen Volkes, ging weiter zur stolzen
Begeisterung, der jungen Burschenschaft und schlossen ab mit der zarten kleinen
Erzählung, wie der Großvater die Großmutter nahm. Bei den Erinnerungen aus der
Kindheit kam dem greisen, munteren Erzähler zu statten, daß im Hause seines
Vaters, der selbst ein äußerst vielseitiger regsamer Geist war, nicht wenig
bedeutende Persönlichkeiten als Gäste und Freunde aus- und eingegangen waren.
Unter den Freunden wurde der Legationsrat Johannes
Falk genannt, zu dem mein Großvater als Knabe in einem besonders
herzlichen Verhältnis gestanden hatte. Die Umstände aber, unter denen er den
merkwürdigen Mann kennen gelernt hatte, waren so eigentümlich und für Johannes
Falk so bezeichnend, daß die Erzählung davon hier wiedergegeben sei.
Ich mochte damals, so hob mein Großvater an,
nachdem er einige kräftige Züge aus der langen Pfeife getan hatte, wohl im
siebten Lebensjahre stehen. Mein Vater war nicht lange vorher nach Ilmenau
versetzt worden. Die Schlacht bei Leipzig war geschlagen, die schweren
Erschütterungen der Franzosenzeit lagen noch auf den Gemütern. Das dankbare
Gefühl der Befreiung war groß, aber auch Not und Elend in dem schwer
heimgesuchten Lande. An einem Sommerabend waren wir Kinder etwa seit einer
Stunde zu Bett gebracht, wurden aber noch einmal durch die Ankunft eines
Fremden wach, der von den Eltern mit viel Freude willkommen geheißen wurde.
Solch unangemeldeter Besuch, um gastliche Herberge für die Nacht zu suchen, war
nichts seltenes, und wir schliefen bald wieder ein. Um Mitternacht aber wurde
die Schlafzimmertür geöffnet, die zu dem nebenan liegenden Fremdenzimmer
führte, und herein trat, die Kerze in der Hand, nur mit dem Nachthemd
bekleidet, ein uns fremder Mann. Zum Langewundern hatten wir nicht Zeit, denn
der Fremde rief uns mit munterer Stimme zu: „Kinder, wacht einmal auf, ich will
euch eine Geschichte erzählen!“ Und nun begann wirklich der nächtliche Gast,
mit großen Schritten auf- und abgehend, uns das Märchen von den sieben Raben zu
erzählen. Es war die Form, wonach die treue Schwester auf langen Irrfahrten
nach den verzauberten Brüdern sucht, bis sie endlich die Höhe des Glasberges
erreicht und ihr abgeschnittenes Fingerlein als Schlüssel benutzt, um das
Zauberschloß zu öffnen, das die Brüder gefangen hielt. Mit großen Augen folgten
wir den Schritten des Erzählers und den Wegen der unermüdlichen rettenden
Schwesterliebe bis die Erlösten glücklich heimkehren und der notdürftig
bekleidete Mann uns wieder den eigenen Träumen überließ. In aller Morgenfrühe
aber sahen wir gerade noch durch die Fensterscheiben, wie unser unbekannter
Freund, zur Weiterreise wohlgerüstet, vor dem Haus einen Schimmel bestieg und
davon ritt. Unsere erste Frage war: „Vater, wer war der fremde Mann? Denke dir,
er hat uns in der Nacht eine schöne Geschichte erzählt.“ Mit leuchtenden Augen
gab der Vater zur Antwort: „Merkt ihn euch recht, ihr Kinder, das war Johannes Falk, euer und aller Kinder
guter Freund. Von lauter Liebe getrieben, um Gottes und Christi willen reist er
im Lande umher, um arme, verlassene Kinder zu suchen und zu retten, die die Not
dieser Zeit zurückgelassen hat. Bei Bürger und Bauer klopft er an, um die
Herzen warm und willig zu machen zum Werk der rettenden Liebe.“ Wir Kinder
vergaßen das Erlebnis natürlich nicht, vielmehr beschäftigte uns die Geschichte
der treu liebenden Schwester und das Bild des liebreichen Kinderfreundes, der
nach ruheloser Reise eine schlaflose Nachtstunde schnell benutzt hatte, uns
Kindern eine Gabe zu bieten, noch lange lebhaft. Später ist Johannes Falk oft bei uns eingekehrt,
hat auch, da er einige Zeit im Grenzhammer wohnte, von Ilmenau aus verschiedene
Partien mit uns nach Schwarzburg, Schneekopf, Suhl, Paulinzella unternommen.
Das Märchen von den sieben Raben ist nicht die letzte Gabe, die ich seiner
Liebe zu danken habe, sein übervolles Herz wußte, mit immer neuen Schätzen zu
erfreuen. Auch ein ‚neues Testament’ unter meinen Büchern ist ein Geschenk von ihm.
So erzählte mein Großvater und nahm vom
Bücherbrett ein kleines Bibelbuch, auf dessen erster Seite
etwas verblaßt, aber noch deutlich zu lesen war: „Lieber Theodor! Die Hand, die
dies schrieb, wird verdorren, aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit. Johannes Falk“ . O.T.
Mit Goethes Freundeskreis kam August Thieme oft in Berührung; er hat
auch Goethe selbst gesehen und
gesprochen. Besonders nahe stand ihm Goethes
Freund Bergrat Voigt, mit dem er,
seltene Steine sammelnd, viel in den Bergen umher streifte. So entstand damals,
in jahrelangem Suchen und Sammeln, ein sehr schönes Mineralienkabinet, das ich
in Kalbsrieth noch gesehen und bewundert habe. – In diese stille Zeit, die in
der Hauptsache den ernsten Amtsgeschäften gehörte, nur in Erholungsstunden auch
wissenschaftlicher Forschung, stürmte nun mitunter noch ein bekannter Gast. Es
war der Turnvater Friedrich Ludwig Jahn[32],
der, auch nach dem Kriege im Bunde mit der Burschenschaft, seine Turnerei
weiter betrieb.
Den
Wanderstecken in der Hand, mit möglich wenig Gepäck beschwert, denn Dinge, die
zur Behaglichkeit des Lebens beitragen, hielt er für schädlich und die Menschen
verweichlichend, so stand er oft Einlaß begehrend an der Tür des gastlichen
Hauses. Vom Herrn des Hauses, der mit den Jahn’schen
Abhärtungstheorien ganz einverstanden war und in der Erziehung seiner Söhne
nach den selben Grundsätzen handelte, wurde er stets freudig empfangen. Was ich
von der jungen Hausfrau Luise
nicht sagen kann. Von ihr weiß ich, daß ihr die Erscheinung des rauhen
Naturburschen jedes Mal einen ziemlichen Schrecken einjagte. Auf gute Formen,
eine feste Hausordnung, legte er wenig Wert und so war seine Nähe für die
kleine, zart besaitete Frau immer etwas, das auf sie wirkte, als tobe ein
wilder Sturm durch ihr friedliches Tal. Doch hat noch jedes Mal ihr gutes Herz
gesiegt und vor allem war es ihre große Vaterlandsliebe, die sie lehrte, den zu
verstehen, der so und nicht anders sein konnte, wollte er sein Lebenswerk, die
Ertüchtigung der deutschen Jugend, durchsetzen. –
A. Thieme stand der damals neu
gegründeten Jenenser Burschenschaft sehr nahe. Einige der Führenden, soweit sie
in ihren Bestrebungen Maß hielten kannte er persönlich. Da geschah es eines
Tages – Theodor, der Älteste saß
lernend neben seinem Vater in der Studierstube – als die Tür schnell
aufgerissen wurde und außer sich, ohne Gruß, ein Student ins Zimmer stürzte: „Sand[33]
hat den Kotzebue[34]
ermordet“. Entsetzt, empört sprang der Urgroßvater auf: „Der Unselige, das wird der Burschenschaft
sehr schaden!“ Es hat ihr
sehr geschadet, viel Leid ist danach über sie und ihre Anhänger gekommen[35].
–
A. Thieme hat sich viel
schriftstellerisch betätigt, leider ist uns, außer seinen Gedichten, die später
Alfred von Wolzogen[36]
herausgab, nichts von seinen Schriften erhalten geblieben. 1822 dachte er
daran, sein geistliches Amt aufzugeben, nach Leipzig zu gehen und sich dort
ganz dem Schriftstellerberufe zu widmen. Da wurde er vom Magistrat in Allstedt
als Diakonus in sein Geburtshaus dahin berufen. Gern leistet er dem Ruf Folge.
–
So kam es
im Herbst 1822 zur Trennung von dem schönen Waldstädtchen Ilmenau, sie wird der
Familie nach den langen und ereignisreichen Jahren, die sie dort verlebte,
nicht leicht geworden sein. Bei der Abschiedsfeier im Freundeskreis wurde August Thieme noch als Ehrengabe ein
vergoldeter Becher überreicht, den wir noch besitzen.
Die in ihn eingravierten Namen sind der Welt, weil sie zu Goethes Leben gehören, für alle Zeit
bekannt geworden. –
Im Oktober
1822 wurde Dr. August Thieme als
Diakonus in Allstedt und Pfarrer in Mönchpfiffel durch den Konsistorialrat Köthe[37]
eingeführt. Dort in der lieben alten Kinderheimat lebte er sich schnell ein und
noch lange Jahre, bis an sein Lebensende[38]
hat er segnend und mit seinem reichen Wissen und tiefen Gemüth alle
beschenkend, in ihr gewirkt.
Von seiner Gemeinde ist er sehr
geliebt und hochgehalten worden, wohl zumeist um seiner ganz unzerstörbaren
Menschenliebe willen. So wird von ihm erzählt, daß er einmal, als
nächtlicherweile Spitzbuben am Spalier seines Hauses hinauf kletterten, um sich
seine schönen Weintrauben zu stehlen, ihnen ängstlich aus dem Fenster zugerufen
hätte: „ Fallt nur nicht, fallt nur nicht!“
In Allstedt lebte Thieme
ganz zurückgezogen, am gesellschaftlichen Leben des Städtchens nahm er fast
nicht teil. Er war vor allem Seelsorger und jedem seiner Gemeindemitglieder ein
väterlicher Freund.
Er hatte einen großen Hang zur
Naturwissenschaft und ging so auf in ihren Erkenntnissen, daß alles, was er
erlebte, sich ihm verwob mit den Bildern der Natur. Er erkannte das Walten
Gottes in den Wundern der Natur und ihren Geheimnissen, die niemals ein
Menschengeist ganz wird erklären und ergründen können. Er sagte von sich
selbst, daß er von jeher in einem seltsamen Kampfe gestanden hätte zwischen
Naturphilosophie und Evangelium, daß er aber doch alles selbst Errungene
zurückgeworfen hätte hinter sein evangelisches Amt.
Lebhaften Anteil nahm er auch an den geistigen Kämpfen
jener kirchlich und politisch sehr bewegten Zeit. Er schrieb Recensionen
in die Predigerbibliothek von Röhr[39]
und in das kritische Journal eines Hamburger Pastors, später in dem Halle’schen
Streit gegen Genesius[40]
eine Broschüre, „Die Ironie des theologischen Katheders“ und erhielt viele
zustimmende Schriften. –
Im Übrigen lebte er sehr still, fast wie ein
Einsiedler, in seinem abgelegen Talwinkel der goldenen Aue, Nur an eine
Familie schloß er sich eng an, an die des Generals Ludwig von Wolzogen[41]
in dem nahen Kalbsrieth, wo der General nach seiner Pensionierung[42]
das Rittergut käuflich erworben hatte, um da, fern ab von der großen Welt, mit
seiner Familie seinen Lebensabend zu verbringen.
Der Lebensweg Ludwig
von Wolzogens war sehr merkwürdig[43].
Geboren 1773 als der fünfte Sohn des Herzogl. Hildburghausenschen
Legationsrates Freiherrn von Wolzogen Herrn auf Bauerbach bei
Meiningen, wurde er für die militärische Laufbahn erzogen, in der er sich dann
bald sehr auszeichnete und auf besonders schwierige verantwortungsvolle Posten
berufen wurde. Seine Mutter, geb. von
Ostheimb, war die mütterliche
Freundin Schillers, der ihr in
„Kabale und Liebe“ ein unvergängliches Denkmal gesetzt hat. Wolzogen verlor seinen Vater sehr früh.
Dann erhielt er seine erste militärische Erziehung auf der durch Schiller berühmt gewordenen hohen
Carlsschule in Stuttgart. Mit dem genialen Friedrich
Schiller, der ein Schulgenosse
seiner älteren Brüder gewesen war, verband ihn eine sehr herzlich Freundschaft
und später wurde er durch die Heirat seines Bruder Wilhelm[44]
mit Karoline von Lengefeld[45]
Schillers Schwager.
Nach beendeter Ausbildung trat er als Lieutenant in den
Dienst des Königs von Württemberg. Dort machte er, da er sehr befähigt war,
schnell eine glänzende Carriere. Der mit Napoleon
verbündete König verwendete Wolzogen
gern als Boten zwischen den deutschen Fürsten und Napoleon. Auch die Verlobung Jeromes[46]
mit der Prinzessin von Württemberg hatte Wolzogen
zu vermitteln, was ihm aber zunächst nur finstere Gesichter vom Prinzen Jerome einbrachte, der die Prinzessin
nicht wollte. Der Bote hatte ihr den wenig gnädigen Empfang, der ihm zuteil
geworden war, klug verschwiegen. Wolzogen
liebte Napoleon nicht, er sah in
ihm den Feind, den verhaßten Welteroberer, aber so lange er gezwungen in seinen
Diensten stand, hat er ihm wirklich genützt. Betrügen wollte er Napoleon nicht, aber bei erster
Gelegenheit ihm offen als Gegner in ehrlicher Feldschlacht entgegen treten. Er
war als Unterhändler sehr geschickt. Napoleon sagte ihm: „je suis content de vous, restez
encore ici, je vous donnerai une réponse au roi vers le soir“[47].
Eine kostbare, mit Brillianten reich besetzte Tabaksdose ließ ihm Napoleon bei dieser Gelegenheit
überreichen. Wolzogen veräußerte
sie später, und den Erlös verwandte er zum Ankauf einer Equipierung für den
Feldzug gegen Napoleon.
Die
Stellung in Württemberg unter Napoleons
Herrschaft wurde für Wolzogen
immer unerträglicher, und so nahm er 1807 seinen Abschied und meldete sich in
Preußen zum Eintritt in die preußische Armee. Er hat den Friedensverhandlungen
in Memel und Tilsit mit beigewohnt, konnte aber nicht bleiben, da die
preußische Armee reduciert wurde. Nun wandte er sich mit einer Empfehlung der
Großfürstin Marie Pawlowa[48]
an den Kaiser von Rußland und bat um eine Anstellung im russischen Heere. Am
Hofe in Petersburg wurde er sehr gut aufgenommen, denn dort lebte schon seit
längerer Zeit sein Bruder Wilhelm
in der nächsten Umgebung des Kaisers Alexander,
der den gewandten und auch kunstliebenden jungen Deutschen sehr
schätzte. In jenen Tagen war es nun[49],
wo der General von Wolzogen
unseren Urgroßvater August Thieme
kennen lernte. Der Flügeladjutant Wilhelm
von Wolzogen versammelte gern in seinem Hause die in Petersburg lebenden
deutschen Künstler und Gelehrten, zu denen auch der Dr. Thieme gehörte. Da auch Kaiser Alexander diese
Zusammenkünfte im Hause seines Flügeladjutanten mitunter aufsuchte, kam Thieme bei solchen Gelegenheiten selbst
in die Nähe des russischen Kaisers.
Viele,
viele Jahre später habe ich selbst noch erzählen hören, daß in einer Audienz,
die dem deutschen Dr. Thieme gewährt wurde, Kaiser Alexander persönlich die
Reformvorschläge des Deutschen entgegengenommen und sie in längerer Unterredung
mit ihm durchgesprochen hätte. Ich hielt das für sehr unwahrscheinlich. Wie
käme wohl der mächtige Kaiser, Selbstherrscher aller Russen, dazu den
einfachen, bürgerlichen Thieme zu
kennen und ihn einer persönlichen Unterredung zu würdigen. Nun, da ich die
näheren Umstände kenne, weiß ich, daß die Unterredung wirklich stattgefunden
hat. Wilhelm von Wolzogen
hatte den Kaiser auf den deutschen Gelehrten aufmerksam gemacht und die Audienz
vermittelt. Ein Schriftstück aus jener Zeit existiert noch, es ist ein Befehl
des Kaisers, der anordnete, daß dem Schulinspektor Thieme für seine Fahrten kaiserlicher Schutz gewährt wird
und daß ihm auf jeder Poststation frische Pferde zu stellen sind. Ich lege das
Blatt, mit deutscher Übersetzung versehen der Chronik
bei[50].
Thieme wurde damals auch der Adel
verliehen, den er aber, als er nach Thüringen zurückkehrte, wieder ablegte.
General L. von
Wolzogen stand nun in russischen
Diensten und kämpfte in den Freiheitskriegen gegen Napoleon. Als vorzüglicher Stratege zeichnete er sich sehr
aus und wurde rasch befördert. Kaiser Alexander
vertraute ihm ganz um seines sicheren Urteils und seiner deutschen Ehrlichkeit
willen.
Den Brand von Moskau[51]
erlebte Wolzogen mit, er erzählt
davon sehr interessant in seinen 1851 veröffentlichten Lebenserinnerungen. –
Nach dem Sturze Napoleons nahm er
als Begleiter des Herzogs von Weimar[52]
teil am Wiener Kongreß[53].
Dort trat er sehr warm und nachdrücklich ein für die Interessen des
weimarischen Fürstenhauses. Aus Dankbarkeit schenkte ihm dann Carl August
eine Brilliantdose und eine Anweisung auf 10 000 Gulden mit der Bitte, die
Summe zum Ankaufe eines Ruhesitzes im Weimarischen Lande zu verwenden. Im Jahre
1821 mußte Charlotte von Kalb,
die Freundin Schillers, ihr Gut in
Kalbsrieth veräußern. Wolzogen
kaufte es und zog mit seiner Familie nach Thüringen, wo er sich in der Folge
sehr wohl fühlte. – In Allstedt fand er den alten Petersburger Bekannten Thieme wieder, was ihn sehr freute. Er
schreibt darüber in seinen Memoiren, die unserer Familie erhalten geblieben
sind, folgendes:
„Anderthalb Stunden von
Kalbsrieth, in dem freundlichen Städtchen Allstedt, wo der Herzog Carl August
mit Goethe früher so gerne geweilt, lebt in idyllischer Zurückgezogenheit ein
alter ehemaliger Inspektor der finnischen Schulen, nunmehriger Prediger Dr.
August Thieme; den mein ältester Bruder bereits im Anfange diese Jahrhunderts
vielfach in Klingers, Krusensterns und Ludwig Heinrich von Nicolays
Gesellschaft zu Petersburg gesehen, und der schon Damals in der von den
„Deutschen Dichtern im Norden“ redigierten, so viel ich weiß, aber jetzt längst
verschollenen Zeitschrift „Ruthenia“
Zeugnisse sehr poetischer Begabung niederlegte, merkwürdiger Weise indessen
nach seiner Rückkehr ins Vaterland die Bizarrerie hatte, vor der Welt zu verstummen
und lediglich den Naturwissenschaften zu leben, die er mit großer Originalität
betreibt und lehrt. Sein tiefes Gemüt und die zartsinnige Weise, womit er all
unsere Familienfeste durch sein Talent zu verherrlichen gewußt, sowie ein
mehrjähriger Unterricht bei meinen Kindern haben ihn mir und meinem Hause
überaus wert gemacht. Jedenfalls bleibt das Schicksal merkwürdig, das uns zwei
alte Russen aus so verschiedenen Sphären in ihrem Lebenswinter auf diese
liebliche Scholle des mittleren Deutschlands zusammengeschneit hat.“[54]
–
Kinder
des Generals, deren Unterricht A. Thieme
von Allstedt aus übernahm, sind:
Alfred,
später Alleinbesitzer des Rittergutes Kalbsrieth, Kammerherr und Intendant des
Schweriner Hoftheaters
Hermann,
Gutsbesitzer bei Danzig
Pauline,
unverheiratet, lebte in Kalbsrieth
Anna,
später Frau von Niebuhr,
Schwiegertochter des berühmten Niebuhr;
Eduard,
Lieutenant in einem preußischen Husarenregiment.
Das Verhältnis zwischen den gut beanlagten, lerneifrigen Wolzogens und ihrem Lehrer war ein sehr
gutes. Besonders Alfred, der
Älteste hing an ihm mit großer Liebe und Verehrung. Er sammelte später die
Gedichte Thiemes und gab sie im
Jahre 1851 im Selbstverlage heraus. Die Vorrede zu dieser Gedichtsammlung
schrieb Johannes Falk. Wie wohl voraus zu sehen war, sind
die Gedichte – der Dichter nennt sie Waldsträuße – nicht sehr bekannt geworden,
sie waren ja auch nicht für einen größeren Leserkreis geschrieben.
Thieme sagte
selbst von seinem Bändchen Gedichte: „Auf viel Anteilnahme rechne ich nicht,
doch ist’s mir eine Freude, hier mit Einemmale an meine fernen Freunde eben so
viele Briefe geschrieben zu haben über mein kleines Leben – als Lieder darin
sind!“ –
So wollen diese kleinen Dichtungen auch verstanden sein –
sie setzen doch viel persönliches Interesse und Naturkenntnisse voraus – für
Fernstehende waren sie fast ungenießbar. Sie sind wenig bekannt geworden. Nur
eines der Thieme’schen Waldlieder
ist in die deutsche Literatur mit aufgenommen worden. Es heißt: „Die grüne
Kirche“ und ist entstanden in der wildromantischen Einsamkeit des Thüringer
Waldes, wo die Vöglein ihre Danklieder singen und hohe Tannen feierlich stehen
wie Orgelröhren in einem riesigen Gotteshaus. Dieses Gedicht ist nicht
vergessen worden, in den Sammlungen religiöser Dichtungen ist es noch zu
finden.
Und wie einst die fernen Freunde in Petersburg und
Finnland, freut sich heute die Urenkelin[55]
an den kleinen Dichtungen, die ihr fortlaufend und treu Einblick gewähren in
Leben, Denken und Empfinden des Vorfahren. –
Nun möchte ich, um im Zusammenhang der Geschehnisse zu
bleiben, fortfahren zu berichten aus dem Leben des Generals von Wolzogen,
der später der Patronatsherr unseres Großvaters Theodor
Thieme in Kalbsrieth wurde.
Im Jahre 1821 kaufte Wolzogen
das Rittergut Kalbsrieth von der Familie von
Kalb in der Goldenen Aue
Niederthüringens. Es kostete 96.842 Thaler 21 Groschen 6 Pf. –
Er behielt dann das Gut als Sommersitz und hatte viel
Freude an seiner gutsherrlichen Stellung. Für seine Leute sorgte er gern und
gut, dachte dabei unablässig an die Verschönerung und Verbesserung seines neuen
Besitzes. Von 1840 bis ´43 lebte Wolzogen
ganz in Kalbsrieth, verzog dann aber aus Gesundheitsrücksichten, der feuchten
Lage Kalbsrieths wegen, nach Berlin. Dort ist er, 72 Jahre alt, im Jahre 1845
gestorben. Auf dem Invalidenfriedhof, nicht weit von Scharnhorst, fand er seine
letzte Ruhestätte.
Eine von August Thieme verfaßte treffende Charakteristik[56]
des Generals findet sich in der Familiengeschichte der Wolzogens.
Im Jahre 1836 feierte Thieme das 50-jährige Jubiläum
seines Rektors Wilhelm in Roßleben
mit und hielt die Festrede, die gedruckt worden ist. –
Im Jahre 1843, am 24. Januar verlor er seine Frau Luise, welcher Verlust ihn sehr
niederdrückte. Zu ihrem Andenken ließ er „Unsere Charwoche“
drucken, die nur für Familienmitglieder bestimmt ist[57].
In jenen schweren Tagen stand ihm treu zur Seite eine Freundin seiner Frau Luise, die auch seine Schülerin gewesen
war, Julie von Broizem. –
Luise
wurde von allen, die sie gekannt hatten, tief betrauert und hinterließ eine
Lücke die, obwohl der Urgroßvater sich später wieder verheiratete, doch immer
sehr fühlbar beblieben ist. – Julie von
Broizem hatte die Kranke mit
gepflegt und sich nach dem Tode der Hausfrau des verwaisten Haushalts angenommen.
August Thieme war im Hauswesen sehr unpraktisch, überließ alles der Hausfrau,
kannte z.B. seine amtlichen Einnahmen nicht. So entschloß er sich, um wieder
eine geordnete Häuslichkeit zu bekommen, schon im Jahre 1845 zu einer zweiten
Ehe. Er wählte nicht lange. Niemand stand ihm und seinem Hause so nahe, wie Julie von
Broizem, die Freundin seiner
verstorbenen Frau. Er heiratete Julie von Broizem
(geb. 1812) und sie schenkte ihm noch zwei Kinder: Agnes Thieme,
geboren 1847 und Benno Thieme, geboren 1851. Agnes Thieme
– Agneau, auch Anno
genannt – habe ich noch gekannt, sie besuchte oft in den Sommermonaten ihren
Stiefbruder Theodor, unseren
Großvater in Kalbsrieth. Sie wohnte in Leipzig und ist dort, in welchem Jahre
ist mir nicht bekannt, gestorben. Benno
wanderte nach Amerika aus. –
Im Jahre 1846 entschloß sich der alte[58]
Vater Thieme noch zu einer Reise
nach Berlin. Alfred von Wolzogen,
der mit einer Tochter Schinkels
verlobt war, hatte ihn gebeten, die Trauung in Berlin zu übernehmen.
In Begleitung Julchens, seiner
zweiten Frau, reiste er nun, damals wohl ziemlich umständlich, von Allstedt aus
nach Berlin. Dort hat er in fast jugendlichem Eifer alle Museen und
Kunststätten Berlins durchwandert. Drake[59],
den er persönlich kannte, suchte er in seinem Atelier auf und lernte dort auch
den alten Bildhauer Rauch[60]
kennen, der das herrliche Bildnis der Königin Luise
in der Königsgruft zu Charlottenburg geschaffen hat. Auch die Familie Humboldt suchte er auf und Jenny Lind[61]
hörte er singen. Sehr dankbar und froh wird er wohl diese interessanten
Urlaubstage genossen haben. Auch von einem heiteren Vorkommnis erzählen seine
kaum noch zu entziffernden Aufzeichnungen. Die Eisenbahn war damals noch etwas
neues und Furchteinflößendes.
So war es möglich, wenn auch für
uns Gegenwartsmenschen unverständlich, daß der junge Sohn einer Berliner
Familie, der sich als gewandter Großstadtführer schon sehr bewährt hatte,
unermüdlich die Thüringer Gäste auf ihren stundenlangen Wanderungen begleitend,
doch nicht zu bewegen war, sich allein der so gefährlichen Dampfbahn
anzuvertrauen. –
Das unruhige Jahr 1848 regte auch
den alten August Thieme sehr auf, er hat damals öfters
Reden in politischen Versammlungen gehalten.
Im Jahre 1855 feierte er sein
50-jähriges Amtsjubiläum und erhielt vom Großherzog von Weimar den weißen
Falkenorden. Dann im Jahr 1858 fing er an zu kränkeln und nahm, weil er sein
Amt nicht mehr allein versehen konnte, zu seiner Hülfe den Collaborator Biertümpfel in sein Haus.
Zwei Jahre später, kurz nachdem
er seinen 80. Geburtstag gefeiert und seinem Enkel in Berlin einen lateinischen
Brief geschrieben hatte, starb er am 13. Juni 1860. Seinen letzten Ruheplatz
fand er, wie es sein Wunsch gewesen war, an der Kirchhofsmauer neben dem Grabe
seiner von ihm so sehr geliebten Frau Luise.
Wir haben in den 70-er und 80-er Jahren[62]
in Begleitung unseres Vaters die Gräber noch aufsuchen können; jetzt sind sie
verschwunden.
An der Friedhofstür in Allstedt stehen noch die von ihm
gedichteten Zeilen:
„Heilig sei uns
diese Stätte,
Das große stille
Gräberbette,
Da Gott uns alle
schlafen legt.
Heilig sei’s uns,
Amen, Amen!
Wir kommen bald in
dessen Namen,
Der uns zu unsern
Lieben trägt.
Die aus unsren
Armen schieden,
Nicht aus unsern
Herzen schwanden.
Was vergänglich
war hinieden,
Ist in Blumen
auferstanden.
Glaub’, daß das
was nicht von Erde,
Schön’res Leben
finden werde.“
[1] Wilhelm …
[2] Gottlob Israel Ranke (1762-1836)
[3] Johann Heinrich Israel Ranke (1719-1799) und
seine Frau Magdalene Sophie Elisabeth
Eberhardt ???
[4] Henrietta Luise Augusta Wahl
(1779-1843)
[5] Leopold
Ranke 1795-1886
[6] Verbleib
2004 ungeklärt.
[7] Akademischer
Grad am Ende eines postgradualen Studiengangs
[8] erschien
zwischen 1807 und 1811, die Vorgängerzeitschrift hieß: Sankt-Petersburgische deutsche Zeitschrift zur Unterhaltung der
gebildeten Stände, 1804
[9] 2004
Universität von Tartu, Estland
[10] Ludwig Heinrich von Nicolay, 1737-1820,
Dichter
[11] Adam Johann von Krusenstern, 1770-1846,
russischer Admiral und Weltumsegler
[12] Friedrich Maximilian Klinger 1752-1831, Dichter, Namensgeber der „Sturm
und Drang“ – Zeit
[13] Johann Gottfried Seume, 1763-1810,
Aufklärer und Dichter
[14] … Tappe
[15] evtl. Ludwig Purgold, 1780-1821, Dichter
[16] richtig
ist: 23.12.1809 julianisch entspricht 4.1.1810 gregorianisch
[17] entspricht
dem 12.1.1810 im gregorianischem Kalender
[18] Wiege
[19] Diese
„Erinnerungen“ entstanden in der ersten Hälfte des 20. Jhd. , vor 1948, wie
Korrekturen vom 8.11.1948 von Hermann Kühn zeigen.
[20] Da Gottlob Thieme 1806 starb, irrt Bertha Thieme hier.
[21] Verbleib 2004
ungeklärt.
[22] ?
[23] Bedeutung
unklar
[24] Schott
[25] Johann Traugott Leberecht Danz,
1769-1851 Jenaer Theologe
[26] Ernst
(Joseph Gustav?) de Valenti, 17…-1871
[27] Luise Thieme, geb. Wahl
[28] August Thieme
[29] Ludwig Alexander Thieme, 1811-1843
[30] Johannes
Falk 1768-1826, Taufpate von August Thiemes Sohn Johannes Raphael, der nur 5
Tage alt wurde.
[31] Oskar
Thieme 1868-1943
[32] Friedrich Ludwig Jahn 1778–1852
[33] Karl Ludwig Sand (1795–1819)
[34] August von Kotzebue (1761–1819); Schriftsteller und Staatsrat in russischen
Diensten
[35] die so
genannte „Demagogenverfolgung“
[36] Carl August Alfred Freiherr von Wolzogen (1823-1883)
[37] Friedrich August Köthe (1781–1850).
[38] also 38
Jahre bis 1860
[39] Johann Friedrich Roehr 1777-1848,
Superintendent in Weimar, einer der letzten Vertretern des Rationalismus
[40] ?
[41] Ludwig von Wolzogen 1773-1845, General
der Infanterie
[42] 1836
[43] siehe auch
biografischer Anhang.
[44] Wilhelm von Wolzogen 1762-1809
[45] (1763-1847)
[46] Jérôme
Bonaparte (Buonaparte), König von Westfalen, jüngster Bruder Napoleons, 1784
-1860
[47] „Ich
bin zufrieden mit ihnen. Bleiben sie noch hier, ich werde ihnen eine Antwort an
den König gegen
Abend geben.“
[48] Maria Pawlowna 1786-1862
[49] ca. 1810
[50] verbleib
2004 ungeklärt
[51] 15.-21.
September 1812
[52] Karl (Carl)
August von Sachsen-Weimar-Eisenach
[53] Ende
Oktober 1814 bis 9. Juni 1815
[54] Ludwig Freiherr von Wolzogen, Memoiren,
Leipzig 1851, Seite 306 u.307
[55] Bertha
Thieme
[56] Verbleib
2004 unbekannt
[57] Verbleib
2004 unbekannt
[58] nun ja…
66 Jahre…
[59] Friedrich
Drake 1805-1882, dt. Bildhauer
[60] Christian
Daniel Rauch 1777-1857, dt. Bildhauer
[61] Jenny Lind
1820-1887, schwedische Sopranistin
[62] des 19.
Jahrhunderts
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