Über Thieme

Äußerungen einiger Zeitgenossen Thiemes und über Thieme aus heutiger Sicht.

Leopold von Ranke (1795-1886)

in einem Brief an seine Tochter Maximiliane

Nach Ilmenau! Dort lebte ein Vetter, wahrscheinlich der geistreichste Mann unserer ganzen Verwandtschaft, des Namens Thieme; er hatte zuweilen in Wiehe vorgesprochen, und so war ich wohl berechtigt, ihn aufzusuchen. Er nahm mich mit herzlicher Gastlichkeit auf, als wenn wir, wie es ja auch der Fall war, zu seiner Familie gehörten, – eine stattliche Figur von etwas mehr als Mittelgröße, noch in den Jahren, die man die besten nennt, und hatte eine Familie, eine angenehme, stille Hausfrau, die er zärtlich liebte; denn ihretwegen war er aus Rußland, wohin er, glaube ich, als Hauslehrer geraten war, wieder nach Deutschland zurückgekommen, – und ein paar kleine Kinder. Er führte mich nach dem Bad, wo sich dann bei einem Glase Bier die lebhaftesten Gespräche entspannten. Er war Theolog, jedoch ein sehr ungebundener, aber nach der Seite hin, auf welcher der individuelle Geist seine tiefste Ausbildung findet, der mystischen, – er war Theosoph, ein Standpunkt, aus welchem er alle Dinge der Welt, den Staat und die Natur, betrachtete. Er ist hernach nach Allstadt versetzt worden und hat Zusammenhang mit den Wolzogens in Kalbsrieth. Ein junger Wolzogen hat die Reihe Gedichte von ihm drucken lassen, die einen eigentümlichen Geist atmen und mehr zu lesen verdient hätten, als geschehen. In den Stunden des Nachmittags und des Abends, die ich bei ihm zubrachte, war nun von allen Dingen der Welt die Rede. Er sprach mir von seinen inneren Agonien, deren er ganze Koffer mit seinen Papieren angefüllt habe, und dabei wurde dann die Umgegend viel betrachtet und genossen.“

Leopold von Ranke: Neue Briefe, bearbeitet und herausgegeben von Bernhard Hoeft und Hans Herzfeld,
Hamburg 1949, S. 679 f. Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin PK, Handschriftenabteilung, NL Leopold von Ranke
acc.ms.1921.204, [7] 38 I B, fol. 104: Ranke an Gotthard Christian August Thieme [Ende Okt. 1817?].

Theodor Storm (1817-1888)

an seinen Sohn Ernst Storm, Brief vom 29.-31.12 1870

[…] NB. Die Gedichte von August Thieme sind in 2t Ausgabe Naumburg 1855 erschienen; im Buchhandel aber nicht mehr zu haben, nur etwa antiquarisch. Auch die Stollschen Sachen – ich schrieb an Mörike darüber – sind in der Buchhandlung, die sie einst verlegt, nicht mehr vorhanden. Aber Theobald Kerner muß sie haben. Bemühe Dich doch um seine Adresse. An den alten Mörike schrieb ich vergebens darum.”

Theodor Storm – Ernst Storm – Briefwechsel – Kritische Ausgabe, Herausgegeben von David A. Jackson Seite 85


Christian Daniel Rauch (1777-1857)

„Hr. Dr. Thiemes Gedichte bekunden mir ganz deßen Sinn und Gemüth das
Familie v. Wolzogen zugethan darin durch alle Lebensdramen in lebendigster

Herzlichkeit miterlebt, ebenso dies Gefühl in die neuesten Verhältniße überträgt. Ich habe den Mann durch Einführung Ihres lieben Kindes [Elisabeth] im Atelier als solchen persönlich kennen gelernt, wie derselbe in seiner Dichtung und Ihrer mündlichen Mittheilung sich bekundet.“

Chr. D. Rauch an Susanne Schinkel, Berlin, 18. März 1849, ZA SMB, NL Schinkel 6.43 Mappe 156.

August Thieme hat eines seiner Gedichte dem Bildhauer gewidmet, nachdem er das Grabmal von Königin Luise von Preußen in Charlottenburg gesehen hatte.

Die Königsgruft in Charlottenburg

Den wahrlich! meinen Freund ich nimmer nennte,
Der leiser nicht in diese Halle träte,
Der lauter spräch’, den Andacht nicht umwehte,
Der hier an einen Tod noch glauben könnte!

O nahe sanft den friedlichen Gestalten
Und knie still zu ihrem Händefalten!
Wol wär’ es Sünde, sie im Schlaf zu stören!
Du kannst die leisen Athemzüge hören,
Es hebt sich still die Brust, es lebt der Arm,
Die Hände schlummern nur, sie sind noch warm,

Und ihre Pulse sieh’st du sanft noch schlagen!
Wie heilig werden diese ernsten Räume!
In diesen Friedenszügen ist kein Klagen,
Nur still Gebet! wir hören nur die Träume
Der Glücklichen von treu verlebten Stunden
Im Lebenskamnpf, von nun geheilten Wunden!

O, wer noch arme Kön’ge könnte hassen,
Mag dessen Herz dies Veilchenlicht umfassen,
Das mild aus diesem Tempelhimmel bricht,
Zu überschleiern beider Angesicht!
Nicht Bilder sind’s von Fürsten, die geschieden,
Ei ist die Ruh’ in Gott, der Seele Frieden,
Der Dank, daß ausgekämpft des Lebens Leid,
Dem sich des Meisters Thräne hat geweih’t!

General Ludwig von Wolzogen (1773-1845)

Anderthalb Stunden von Kalbsrieth, in dem freundlichen Städtchen Allstedt, wo der Großherzog Carl August mit Goethe früher so gern geweilt, lebt in idyllischer Zurückgezogenheit ein alter ehemaliger Inspector der finnischen Schulen, nunmehriger Prediger Dr. August Thieme, den mein ältester Bruder bereits im Anfange dieses Jahrhunderts vielfach in Klinger’s, Krusenstern’s und Ludwig Heinrich von Nicolay’s Gesellschaft zu Petersburg gesehen, und der schon damals in der von den “deutschen Dichtern im Norden” redigirten, so viel ich weiß, aber jegt längst verschollenen Zeitschrift “Ruthenia” Zeugnisse sehr poetischer Begabung niederlegte, merkwürdiger Weise indessen nach seiner Rückkehr in’s Vaterland die Bizarrerie hatte, vor der Welt zu verstummen und lediglich den Naturwissenschaften zu leben, die er mit großer Originalität betreibt und lehrt. Sein tiefes Gemüth und die zartsinnige Weise, womit er alle unsere Familienfeste durch sein Talent zu verherrlichen gewußt, sowie ein mehrjähriger Unterricht bei meinen Kindern haben ihn mir und meinem Hause überaus werth gemacht. Jedenfalls bleibt das Schicksal merkwürdig, das uns zwei alte Russen aus so verschiedenen Sphären in ihrem Lebenswinter auf diese liebliche Scholle des mittlern Deutschlands zusammengeschneit hat! –

Memoiren des königlich preußischen Generals der Infanterie Ludwig Freiherrn von Wolzogen, hg. von
Alfred von Wolzogen, Leipzig 1851, S. 306-307

Johannes Daniel Falk (1768-1826)

[…] ein frommer und warmer Apostel vom Thüringerwald, August Thieme, nimmt hier im Namen der dortigen stummen Blumen das Wort, gleichsam ein lautes Waldvögelein, was die Geheimnisse jener anmuthigen Einöden ausplaudert. Diejenigen welche sich an hundert mal reflectierten Reflexen von Leinwand und Druckpapier in den Buchläden so seelig laben, und nicht satt sehen und hören können, werden Manches darin so starr und so unzugänglich finden wie die Zugänge zu den hohen wolkigen Bergen selbst, worin diese Waldblumen erwuchsen, die noch keine thüringer Art seit ihrer Entstehung berührt hat. Andere dagegen die den Durchbruch eines würdigen Menschenlebens – vom Spiel zum heiligen Ernst – in sich aufgenommen, oder dargestellt, werden gewiß dem edlen Verfasser Dank wissen, daß er so manchen, bei ihm gleichsam zur Waldblume gewordenen schönen Eindruck einer wilden, großen, romantischen Natur, die – – zwischen einsam schreienden Hähern, aus grünen Wolken und Waldkapellen herunterfallenden Holzrollen, Schneidemühlen, Zigeunerwiesen und stürzenden Waldbächen – zwischen den tausendjährigen Wiegen der Ilm und der Saale -jenseits des schäumenden Stützerbachs – unter Glashütten und Eisenhämmern – – ihre Rolle abspielt, ihnen in diesen frischduftenden Waldsträußern, wenngleich mit einigen schwarzen und stechenden Fichtennadeln untermengt, wieder neu werden läßt. – Wir lieben Alle, die wir ihn umwohnen, den Thüringerwald in der uralten Herrlichkeit seines eisenhaltigen Porphyr-Felsens: – warum sollten wir seinen bescheidenen und kräftigen Sänger nicht gern haben!

in seinem Vorwort der für 1819 geplanten Ausgabe von Thiemes Gedichtsammlung “Waldsträuße”

Alfred von Wolzogen (1823-1883)

in seinem Vorwort zur 1848er Ausgabe von Thiemes Gedichten

[…] ein solcher Fall lieger gerade bei dieser beredten Zeugen einer schönen dichterischen Vergangenheit um so mehr vor, als dieselbe sich schon äußerlich – mit Rücksicht auf den Boden, worauf sie ihre stillen Blüthen trieb, – eng an jene klassische Periode unserer Literatur anschließt, die nach dem Central-Punkt ihrer Wirksamkeit den Namen des Weimarschen Dichterkreis führt.
Daß auch unser Dichter, obwohl er mit den erstlingen seiner Muse fast noch in den Göttinger Dichterbund hineinreichend, den gerechtesten Anspruch auf die Mitgliedschaft jenes Kreises hat, – dafür dürfte insbesondere noch seine innige literarische Beziehung zu einem der bestklingenden Namen aus jener Epoche – zu dem nun auch schon verstorbenen Weimar’schen Legationsrath Johannes Falk, dessen höchste Achtung er dauernd genoß, – ein vollgültiges Zeugnis sein.

Wulf Kirsten (*1934)

Als ich die Lyrik-Anthologie Umkränzt von grünen Hügeln. Thüringen im Gedicht vorbereitete, stieß ich auf den mir bislang völlig unbekannten Allstedter Pfarrer August Thieme. Nirgendwo, in keinem der einschlägigen Sammelbände, stieß ich auf Proben seiner Gedichte. Glücklicherweise fanden sich die 1848 und 1850 von dem Schriftsteller Alfred von Wolzogen (1823-1883) – der im benachbarten Kalbsrieth ansässigen Familie zugehörig – herausgegebenen Bände Gedichte und Neue Gedichte in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in wohlerhaltenen, offensichtlich nie oder höchst selten benutzten Exemplaren. Die Lektüre der Gedichte faszinierte mich. Mir war sofort klar, eine der seltenen Entdeckungen gemacht zu haben. Es blieb die Verwunderung, wie dieser Dichter so völlig vergessen werden konnte. Es fiel mir schwer, eine schmale Auswahl zu treffen. Am Ende mußte ich mich mit fünf aus beiden Bänden gewählten Gedichten, zwischen 1801 und 1849 entstanden, begnügen, um die Proportionen nicht über Gebühr zu verschieben. […]
Thieme war ein poeta doctus. In seinen Gedichten verwendet er reichlich naturwissenschaftliches, mythologisches, historisches Fachvokabular, spart ebensowenig mit zeitbezüglichen Anspielungen. In den 173 Anmerkungen zu den Neuen Gedichten, zu denen wohl Alfred von Wolzogen geraten, wenn nicht gedrängt hatte, kann man durchaus einen kühnen Vorgriff auf moderne Gepflogenheiten sehen. Wenn auch Naturbetrachtungen, oft jahreszeitlich bestimmt, dominieren, ist die thematische Vielfalt erstaunlich, die Thieme in seinen Gedichten zu bieten hat. Spricht sie doch für eine weitläufige Aufgeschlossenheit, die mit der jahrzehntelangen Zurückgezogenheit in einem entlegenen Ackerbürgerstädtchen erheblich kontrastiert.

Wulf Kirsten: “Verbrannte Gedichte”. In “Es nimmt der Augenblick, was Jahre geben”: vom Wiederaufbau der Büchersammlung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek – Vandenhoeck & Ruprecht, 2007

Christoph von Wolzogen (*1948)

Wenn man auf die Zeit Thiemes nicht mit den Augen und Begriffen Goethes blickt,
sondern mit denen eines William Carlos Williams, dann wird klar, was Thieme besingt, nämlich wie es ist zu Hause zu sein, und wie es ist, wenn man es nicht kann oder darf.
Das ist sein Zauberwort, und er möchte, der botanisierende und geologisierende
Theologe, dass jeder versteht, was er in seiner Poesie des Grashalms beschreibt: dass eine zertretene Blume für ein erwachendes Leben mindestens ein so metaphysisches Gewicht bekommt, wie wenn etwas im Großen zerbricht. Und für diesen Dank, dass etwas da ist und sein darf, aber auch für den Abschied, der auf jeden Menschen zukommt, hat Thieme in seinen Gedichten eine unverwechselbare, in ihrer Wortmalerei mitunter spröde Sprache gefunden, die wir vielleicht erst heute wirklich verstehen.

Christoph von Wolzogen: Einsiedler und Weltkind – Der Dichter August Thieme (1780-1860) und Goethe [2020]
Das ganze Essay findet sich hier